»Kein Absolutes ist anders auszudrücken als in Stoffen und Kategorien der Immanenz, während doch weder diese in ihrer Bedingtheit noch ihr totaler Inbegriff zu vergotten ist. Metaphysik ist, dem eigenen Begriff nach, möglich nicht als ein deduktiver Zusammenhang von Urteilen über Seiendes. Genausowenig kann sie nach dem Muster eines absolut Verschiedenen gedacht werden, das furchtbar des Denkens spottete. Danach wäre sie möglich allein als lesbare Konstellation von Seiendem. Von diesem empfinge sie den Stoff, ohne den sie nicht wäre, verklärte aber nicht das Dasein ihrer Elemente, sondern brächte sie zu einer Konfiguration, in der die Elemente zur Schrift zusammentreten. Dazu muß sie sich auf das Wünschen verstehen.«[349]

 

III. Teil

Habermas' Grundannahme:
Instrumentelles Handeln und Kommunikatives Handeln schließen einander wechselseitig aus

Den Fluchtpunkt der dialektischen Tradition (von Hegel bis Adorno) bildet der Aufweis eines angebbaren – so könnte man vorläufig formulieren – objektiven, will sagen: empirisch identifizierbaren Faktors, von dem gezeigt werden soll, daß er die dauerhafte Krise, in dem die moderne Welt sich befindet, gleichzeitig 'verursacht' und 'konstituiert'. Die Anführungsstriche, in die man diese Wörter setzen muß, drücken bereits eine Verlegenheit aus. Sie sollen signalisieren, daß dieser 'Faktor', nennt man ihn nun 'das Absolute', 'Totalität', 'Wertgesetz', oder 'kommunikatives Handeln', einen eigentümlichen 'Doppelcharakter' aufweist, der am ehesten an der Marxschen Warenanalyse veranschaulicht werden kann[350]: er soll gleichermaßen empirisches Faktum (ein Seiendes) und 'synthetisches Apriori' (im Sinne der Transzendentalphilosophie) sein[351]. Sämtliche von einem nachhegelschen Dialektikbegriff inspirierten empirischen Analysen weisen deshalb eine charakteristische, nicht zu übersehende Zwiespältigkeit zur Empirie auf, die sich in Form einer Antinomie ausdrücken läßt: als Philosophie zielt die Dialektik auf die 'Aufhebung' von Bewußtseinsstrukturen, und trotzdem muß sie als empirische Evolutionstheorie (oder Geschichtstheorie) sich mit einer Beschreibung von bloß 'Seiendem' bescheiden[352].

Hinzu kommt noch folgender Umstand: jene Philosophen nach Marx, die systematisch am Verdinglichungs– und Fetischbegriff festgehalten haben (Lukács, Horkheimer, Adorno), haben zunehmend die Ökonomie an die Peripherie und die Natur– und Sozialwissenschaften ins Zentrum ihrer Analysen gerückt[353]. Das gipfelte schließlich im Positivismusstreit, in dem es nicht mehr um Kapital– und Geschichtslogik ging, sondern um die Logik der Sozialwissenschaften, genauer: um die Entzifferung der Wissenschaftslogik als Geschichtslogik.

Bedient man sich aber natur– und sozialwissenschaftlicher Analysen in der Erwartung, auf diesem Gebiet ein Äquivalent zur Kritik der Politischen Ökonomie ausarbeiten zu können, dann stellt sich die Frage, wie Marx' Unterschied zwischen Ökonomie (als Fachdisziplin) und Produktionsweise (als einem Seienden) zu verallgemeinern sei – das wäre nicht die schlechteste Bezeichnung für das, was die 'Kritische Theorie' inhaltlich motiviert.

Habermas hat aus einer philosophischen Analyse der Binnenperspektiven von Verständigungsprozessen einen Wahrheits– und Kommunikationsbegriff gewonnen, der unter dem, was er eine »objektivierende Grundeinstellung zur Welt« nennt, durchaus das subsumiert, was Marx unter 'Ideologie', Lukács unter 'Verdinglichung' und Horkheimer/Adorno unter 'Naturbeherrschung'[354] verstehen: nunmehr ohne Warenanalyse oder Hegels 'Absolutes'. Es fragt sich nun, wie mit diesem Begriff zu operieren sei.

Ich möchte die Probleme, die ich sehe, anhand eines Vergleichs mit Lukács aufzeigen.

III.1 Zum Vergleich:
Lukács' Begriff der Gegenständlichkeitsform

Lukács benutzt den Begriff 'Gegenständlichkeitsform'[355] in unterschiedlichen Kontexten einmal als systemtheoretischen, einmal als philosophischen Begriff. Als systemtheoretischer Begriff soll er das qualitativ Neue am modernen Produktionsprozeß – im Vergleich zum Feudalismus – bezeichnen: Die zweckrationale Verwendung von Kapital und Arbeit, die rationale, auf sorgfältiger Kalkulation basierende Produktion für den Markt, die Zerlegung des Arbeitsprozesses im Interesse der Mechanisierung und Rationalisierung ('Taylor'–System), ferner Justiz, Verwaltung, Technik, Bürokratie sind evolutionäre Neuerungen, die eine Gesellschaft hervorgebracht hat, welche über noch nie dagewesene Produktivkräfte verfügt, eben die des modernen 'Kapitalismus'. Er veranschaulicht diese systemtheoretische Bedeutung seines Begriffs der Gegenständlichkeitsform mit folgendem Zitat von Max Weber:

»Der moderne kapitalistische Betrieb ruht innerlich vor allem auf der Kalkulation. Er braucht für seine Existenz eine Justiz und Verwaltung, deren Funktionieren wenigstens im Prinzip ebenso auf festen generellen Normen rational kalkuliert werden kann, wie man die voraussichtliche Leistung einer Maschine kalkuliert. Er kann sich mit [...] dem Judizieren nach dem Billigkeitsempfinden des Richters im Einzelfall oder nach anderen irrationalen Rechtsfindungsmitteln und Prinzipien [...] ebenso wenig befreunden wie mit der patriarchalen, nach freier Willkür und Gnade und im übrigen nach unverbrüchlich heiliger, aber irrationaler Tradition verfahrenden Verwaltung. [...] Was dem modernen Kapitalismus im Gegensatz zu jenen uralten Formen kapitalistischen Erwerbs spezifisch ist: die streng rationale Organisation der Arbeit auf dem Boden rationaler Technik, ist nirgends innerhalb derartig irrational konstruierter Staatswesen entstanden und konnte dort auch nie entstehen. Denn dazu sind diese modernen Betriebsformen mit ihrem stehenden Kapital und ihrer exakten Kalkulation gegen Irrationalitäten des Rechts und der Verwaltung viel zu empfindlich. Sie konnten nur da entstehen, wo [...] der Richter, wie im bureaukratischen Staat mit seinen rationalen Gesetzen mehr oder minder ein Paragraphenautomat ist, in welchem man oben die Akten nebst den Kosten und Gebühren hineinwirft, auf daß er unten das Urteil nebst den mehr oder minder stichhaltigen Gründen ausspeie: dessen Funktionieren also jedenfalls im großen und ganzen kalkulierbar ist«.[356]

Lukács faßt es in dem Satz zusammen: die »Warenform« ist zur »konstitutiven Form« dieser Gesellschaft geworden[357].

Dieser evolutions– und systemtheoretischen Bedeutung von 'Gegenständlichkeitsform' fügt er sogleich eine philosophische Bedeutung hinzu: qualitativ neu an dieser Gesellschaft sei nicht nur, daß Güterproduktion, Verwaltung und Justiz rationalisiert wurden, sondern daß dieses objektive Faktum wiederum auf die subjektiven Vorstellungen ihrer eigenen Mitglieder eine »verheerende«[358] Wirkung ausübe. »Die durch das Warenverhältnis entstandene Verdinglichung« sei zur »zweiten Natur« geworden[359].

Diese zweite Bedeutung von »Gegenständlichkeitsform« erlaubt es Lukács nun, Warenverkehr und Tausch gleichzeitig nach den Regeln der philosophischen Analyse von Identitätsformierungs– und Identitätsverlustprozessen zu untersuchen; verfolgen wir, wie er dies plausibel macht.

Ist eine gesamte Gesellschaft nach dem Prinzip der zweckrationalen Manipulation von Objekten und Prozessen organisiert, d.h. wird das moderne Subjekt unaufhörlich mit mechanischen und technischen Vorgängen konfrontiert, so liegt es auf der Hand, daß es allmählich auch sich selbst und sein Verhältnis zu anderen als Ding, als Objekt betrachten wird, das – einer Maschine ähnlich – beliebig gekauft, verwertet, manipuliert und verschrottet werden kann. Das Subjekt verliert die Fähigkeit, zwischen theoretisch–instrumenteller und praktischer Vernunft zu unterscheiden; es wird von einer Welt, in der Menschen nach den unbarmherzigen Regeln der formalen Logik 'verbraucht' werden, seelisch so »verkrüppelt«[360], daß es subjektiv sich diese Welt nur noch (um es mit der klassisch gewordenen, auch von Lukács zitierten Marxschen Formulierung auszudrücken) in der »phantasmagorischen Form eines Verhältnisses von Dingen«[361] vorstellen kann.

Die Welt produziert – wie Lukács sich die philosophische Dimension vorstellt – nicht nur Güter, sondern auch noch durch den Sozialisationsprozeß hindurch jenen 'Kategorienfehler' im Bewußtsein der Produzenten, der ihnen vorgaukelt, praktische Fragen kämen technischen Fragen gleich[362]. Nicht nur die Produktion, sondern auch die Perzeption wird in ihre Teile zerlegt; auch das Subjekt wird 'atomisiert', verliert allmählich die Fähigkeit, sich selbst und seine Welt zu verstehen, ihm entschwindet allmählich jede Übersicht, »jedes Bild des Ganzen.«[363] Diese »Gegenständlichkeitsform« (im Sinne eines von der Ökonomie herrührenden psychologischen Verdinglichungs– und Verblendungsdrucks) hält nicht einmal vor dem Wissenschafts– und Universitätssystem inne. Denn ein nicht–verdinglichter Anblick würde offenbaren:

»[...] daß je entwickelter eine moderne Wissenschaft geworden ist, je mehr sie sich die methodische Klarheit über sich selbst erarbeitet hat, sie sich desto entschiedener von den Seinsproblemen ihrer Sphäre abkehren, diese desto entschiedener aus dem Bereich der von ihr herausgearbeiteten Begreifbarkeit ausscheiden muß. Sie wird – je entwickelter, je wissenschaftlicher, desto mehr – zu einem formell abgeschlossenen System von speziellen Teilgesetzen, für das die außerhalb des eigenen Bereiches liegende Welt und mit ihr sogar in erster Reihe die ihm zur Erkenntnis aufgegebene Materie, sein eigenes, konkretes Wirklichkeitssubstrat als methodisch und prinzipiell unerfaßbar gilt.[364] [...] Und es muß hierbei besonders darauf hingewiesen werden, daß diese Unfähigkeit, bis zum wirklichen materiellen Substrat der Wissenschaft herunterzudringen, nicht das Verfehlen einzelner ist, sondern gerade desto krasser hervortritt, je entwickelter die Wissenschaft ist, je konsequenter sie – von den Voraussetzungen ihrer Begriffsbildung aus – arbeitet.«[365]

Lukács scheint folgendes im Sinn zu haben: Das Wissenschafts– und Universitätssystem leidet an derselben Identitäts– und Orientierungskrise, die er zuvor bei den Arbeitern diagnostiziert hat. Jenen Komplex, der dann später von der Frankfurter Schule unter Rubren wie 'der autoritäre Charakter' analysiert wurde (Motivationsentzug, rigide Charakterzüge, Anomie, Sinnlosigkeit, Stereotypie, Narzißmus, Identitätsverunsicherung etc.), betrachtet Lucács nicht als klassenspezifische Unbeholfenheit, die durch erzieherische Maßnahmen ausgeglichen werden könnte, sondern als ein Wesensmerkmal der kapitalistischen Welt insgesamt[366]. Auf Universität und Forschung übertragen bedeutet dies: der abstrakte Rationalismus – Grundmuster des neuzeitlichen Denkens – ist das vergeistigte und sublimierte Echo dieser objektiven Orientierungskrise, die nicht nur innerwissenschaftlich nicht zu Bewußtsein gekommen ist, sondern nicht einmal in jenem Fachbereich zur Sprache kommt, der sich auf Identitätsfragen sozusagen spezialisiert hat, nämlich in der Philosophie[367].

Die Beweislast, die er sich mit dieser These aufbürdet, ist erheblich. Denn unter 'Verdinglichung' versteht er nicht nur den Schlüssel zum soziologischen Verständnis des bürgerlichen Zeitalters und zugleich den zur philosophisch–erkenntnistheoretischen Lösung des Kantischen Form/ Inhalt–Paradoxons, sondern er sieht hierin auch noch den Impuls zu einer fundamentalen Reorientierung der europäischen Wissenschaft und Philosophie schlechthin. Seine Strategie, dies plausibel zu machen, ist aufschlußreich:

a) Erstens gibt er der Erkenntnistheorie und Transzendentalphilosophie eine psychologische Wende. Die strikte Trennung zwischen theoretischer und praktischer Vernunft (eben die sog. 'Wertfreiheit') hält er für eine Identifikation mit jenen gattungsgeschichtlich älteren Weltbildern, die noch auf die Bedürfnisse derjenigen zugeschnitten sind, die ihre psychische Stabilität nur durch Identifikation mit jenseitigen 'ewigen Werten' ('reine' Wissenschaft, 'schöne' Kunst, unwiderrufbare moralische Prinzipien) aufrecht erhalten können[368]. Psychologisch ist sie eine Rationalisierung der Anpassung, der politischen Blindheit und des Mangels an Civilcourage; logisch verstrickt sich der Neokantianismus (ebenso wie jede Form von Positivismus) unaufhörlich in unlösbare Widersprüche, welche entweder verdrängt oder auf andere Weise scheinbar unwirksam gemacht werden, z.B. indem penibel voneinander getrennte Einzelwissenschaften geschaffen werden. Bis hierher ist Lukács' Position, wie ich sie hier angedeutet habe, offensichtlich eine Vorwegnahme der Frankfurter Schule und auch von Habermas. Der Unterschied zwischen Lukács und Habermas zeigt sich in der Beantwortung folgender Frage: worauf beruht nun Lukács' Zuversicht, er könne sich mit diesen radikalen, sämtlichen akademischen Überzeugungen zuwiderlaufenden Ansichten durchsetzen? Seine Antwort lautet:

b) Krise. Mögen Wissenschaftler und Akademiker noch so sehr in ihrem kontemplativen Rationalismus befangen sein, die objektive Welt, der sie damit den Rücken zudrehen[369], wird sich ihnen trotzdem aufdrängen, und zwar: »[...] als Katastrophe, als plötzlicher, von außen kommender, Vermittlungen ausschließender jäher Wechsel«.[370]

Ich möchte auf beide Argumente von Lukács näher eingehen, um dann auf Habermas zurückzukommen: a) 'Verdinglichung' als 'psychologische Wende' in der Erkenntnistheorie und b) die Motive für eine mögliche Einstellungsänderung auf seiten der organisierten Forschung.

III.1.1 'Verdinglichung' als psychologische Wende in der Erkenntnistheorie[371]

Die modernen Wissenschaften sind – bei gleichzeitig feststellbarer, erstaunlicher Entwicklung in einzelnen Bereichen – immer weniger in der Lage, ein zusammenhängendes Bild von dem zu vermitteln, was mit 'modern' gemeint sein könnte: das internationale System von Gesellschaften und Nationalstaaten, das seit hundert Jahren einer extrem krisenhaften Eigendynamik ausgesetzt ist, die tiefgreifende Veränderungen (um es euphemistisch auszudrücken) auf sämtlichen Gebieten menschlichen Zusammenlebens verursacht hat. Solch kuriose Blindheit hat als Problem nur die Philosophie beschäftigt, und selbst diese hat es mit unzureichenden Mitteln untersucht:

»Es würde weit über den Rahmen dieser Arbeit hinausgehen, die verschiedenen Formen dieses Verzichtes, die Wirklichkeit als Ganzes und als Sein zu begreifen, eingehend zu untersuchen. Hier kam es nur darauf an, den Punkt aufzuzeigen, wo im Denken der bürgerlichen Gesellschaft jene Doppeltendenz ihrer Entwicklung philosophisch zur Geltung gelangt: daß sie die Einzelheiten ihres gesellschaftlichen Daseins im steigenden Maße beherrscht, den Formen ihrer Bedürfnisse unterwirft, zugleich aber – ebenfalls im steigenden Maße – die Möglichkeit zur gedanklichen Bewältigung der Gesellschaft als Totalität und damit die Berufenheit zu ihrer Führung verliert. Die klassische deutsche Philosophie bezeichnet einen eigenartigen Übergangspunkt in dieser Entwicklung: sie entsteht auf einer Entwicklungsstufe der Klasse, wo dieser Prozeß bereits so weit fortgeschritten ist, daß alle diese Probleme als Probleme bewußt gemacht werden können; sie entsteht aber zugleich in einem Milieu, wo diese nur als rein gedankliche, als rein philosophische Probleme ins Bewußtsein treten. Dies versperrt allerdings einerseits das Erblicken der konkreten Probleme der geschichtlichen Lage und des konkreten Auswegs aus ihr, andererseits wiederum ermöglicht es für die klassische Philosophie, die tiefsten und letzten Probleme der bürgerlichen Gesellschaftsentwicklung – als philosophische Probleme – bis ins letzte durchzudenken; die Entwicklung der Klasse – gedanklich – zu Ende zu führen; sämtliche Paradoxien ihrer Lage – gedanklich – auf die äußerste Spitze zu treiben und so den Punkt, wo sich das Hinausgehen über diese geschichtliche Entwicklungsstufe der Menschheit als methodisch notwendig erweist, wenigstens als Problem zu erblicken.«[372]

Wenn selbst die Philosophie keine überzeugende Erklärung für diese Blindheit hat, – ja sie nicht einmal in ihrer vollen schicksalhaften Bedeutung erkannt hat – woran knüpft Lukács dann seine Hoffnung, daß sie noch rechtzeitig aufgehoben werden könnte? Er verfolgt eine doppelte Strategie. Zum einen knüpft er intern am Selbstverständnis des Wissenschaftssystems an, um zu zeigen, daß der Neokantianismus[373] einer Art von objektiver Schizophrenie – einem »Auseinanderfallen des Subjekts«[374] – gleichkommt. Jeder akademisch Ausgebildete, Wissenschaftler, Künstler und Literat, obwohl objektiv in jenem Bereich des Gesellschaftssystems eingebettet, der wie kein anderer das Schicksal des modernen Nationalstaats immer mehr bestimmen wird, nämlich das Erziehungs– und Wissenschaftssystems, ist subjektiv in jener Fiktion der interesselosen Kontemplation befangen, die ursprünglich in den ersten Hochkulturen einmal die Abkoppelung von Perzeption und egoistischem Trieb ermöglichte, inzwischen aber atavistisch ist und hemmend wirkt. Diese »Zweiheit von Subjekt und Objekt«[375], wie Lukács es in der Sprache von Hegel nennt, analysiert er nun an Hand jenes Wissenstypus, der seit Beginn der europäischen Moderne allmählich die Rolle des Christentums usurpiert hat: die zum Erkenntnisideal schlechthin avancierten empirisch–mathematischen Naturwissenschaften. Diese haben – im Vergleich zu früheren Weltbildern – psychische Folgen, die ihm bemerkenswert erscheinen. Die Subsumption sämtlicher Erfahrungsbereiche unter immer abstrakter werdenden logischen Kategorien hinterläßt, im Ausgang der abendländischen Philosophie, ein Subjekt, dessen Tätigkeit sich mehr und mehr auf das bloße Registrieren von Fakten unter ewigen Gesetzen reduziert:

»Denn dieses 'Handeln' besteht darin, daß die wahrscheinliche Auswirkung jener Gesetze so weit wie möglich vorausberechnet, kalkulatorisch erfaßt wird und das Subjekt des 'Handelns' nun eine Position einnimmt, in der diese Auswirkungen für seine Ziele die optimalen Chancen bieten. Es ist also klar, daß einerseits die Möglichkeit einer solchen Voraussicht desto größer ist, je durchrationalisierter die Wirklichkeit ist, je mehr jede ihrer Erscheinungen als in das System dieser Gesetze eingespannt aufgefaßt werden kann. Andererseits ist es aber ebenfalls klar, daß je mehr sich die Wirklichkeit und das Verhalten des 'handelnden' Subjekts zu ihr diesem Typus nähern, das Subjekt sich um so mehr in ein bloßes Auffassungsorgan von erkannten Gesetzmäßigkeitschancen verwandelt und seine 'Tätigkeit' sich um so mehr darauf beschränkt, den Standpunkt einzunehmen, von wo aus sich diese in seinem Sinne, seinen Interessen gemäß (von selbst, ohne sein Zutun) auswirken. Das Subjektverhalten wird – im philosophischen Sinne – rein kontemplativ.«[376]

Nicht die objektivierenden Wissenschaften selbst sind es, die Lukács verurteilt, sondern die subjektiv–psychischen Resultate ihrer weltanschaulichen Absolutsetzung. Sieht das Subjekt die empirische Naturwissenschaft nicht mehr als eine mögliche Form des Wissens an, sondern als die Bedingung des Wissens schlechthin, dann reduziert es moralisch–praktische Fragen auf das technische Problem der instrumentellen Intervention in kausale Zusammenhänge, d.h. auf Sozialtechnologie.

Der psychologische Mechanismus, den Lukács hinter diesem 'Kategorienfehler' vermutet, ist der der Projektion. Werden die allgemeinsten Kategorien der Mathematik und Logik als Attribute des Erfahrungsgegenstandes gewertet, dann kann die Frage nach der Funktion eines Wissenstypus (und der dazugehörigen psychischen Kompetenzen) von der Subjektseite aus gar nicht mehr gestellt werden. Sobald synthetische Leistungen als empirische Beschreibungen von Gegenständen aufgefaßt werden, wird der 'für uns/an sich'–Unterschied psychisch unmöglich: diese Unmöglichkeit selbst folgt aus der 'Verdinglichung' von synthetischen Leistungen. Die Folgen für das Subjekt sind derart, daß jene kategorialen Voraussetzungen (z.B. die quantitative Zeitauffassung oder die Fiktion der räumlichen und zeitlichen Unbeschränktheit des Naturgesetzes), die notwendigerweise gemacht werden müssen, damit Gesetzeshypothesen überprüft und zukünftig in erfolgreiche instrumentelle Manipulationen umgesetzt werden können, nicht mehr als 'unsere' Präsuppositionen auffaßbar sind, die sich einzig in erfolgreichen Technologien selbst erweisen. Stattdessen werden sie als Attribute des Objekts aufgefaßt, d.h. auf die Gegenstände der Erfahrung projiziert. Die Folgen dieser »Mathematisierung der Wirklichkeit«[377], dieser Verwechslung von Naturbeherrschung und Ansichsein der Dinge wie die Kritische Theorie dies später nannte[378], sind dann jene psychischen Züge, die Lukács als eine Regression des objektiven Geistes analysiert: Geschichtslosigkeit, Fatalismus, Hilflosigkeit in der Deutung von politischen Ereignissen, Unbegründbarkeit der eigenen letzten Prinzipien, Rückfall in den Platonismus, Anfälligkeit für Massensuggestion und politische Wahnvorstellungen (Merkmale, die Horkheimer und Adorno dann später auf den Begriff einer 'Dialektik von Mythos und Wissenschaft' gebracht haben[379]). Das moderne Subjekt, Wissenschaftler und Akademiker nicht ausgenommen – so faßt Lukács dieses »Zerrissensein«[380] zusammen – »vermag die sinnliche Notwendigkeit des Erkenntnissystems, die Seelenlosigkeit der fatalistischen Naturgesetze weder zu durchbrechen, noch ihnen einen Sinn zu verleihen, und die von der erkennenden Vernunft gelieferten Inhalte, die von ihr erkannte Welt, sind ebensowenig imstande, die bloß formalen Bestimmungen der Freiheit mit lebendigem Leben zu erfüllen.«[381]

Soweit sich diese Diagnose auf das empirische Vorhandensein von Sinnlosigkeit und Motivationsverlust bezieht – auf Vereinsamung, psychotische Abkapselung von der Außenwelt, Verdrängung und Projektion von Wünschen, Trieben und Ängsten –, sind die von Lukács beschriebenen Phänomene sicherlich nicht neu. 'Verdinglichung' in diesem Sinne ist, wie Lukács selbst einräumt[382], ein Dauerthema der klassischen Philosophie, was auch erklärt, weshalb er ohne weiteres an den Leibnizschen Begriff der Monade[383] anknüpfen kann. Nicht einmal die Überzeugung, daß es ein weit verbreitetes, sogar massenhaft auftretendes Phänomen ist, ist neu. Seit Edmund Burke und der aristokratischen Kritik an der Französischen Revolution ist dies ein fester Bestandteil der konservativen Kulturkritik gewesen, die sich etwa bis in die Arbeiten von Spengler und Gehlen verfolgen läßt. Neu ist allerdings dies: die direkte Verknüpfung mit der Wissenschafts– und Erkenntnistheorie und die Beziehung, die Lukács herstellt zwischen einem 'verdinglichten', aller Leitbilder entleerten Wissenschafts– und Kulturbetrieb und dem 'Hereinbrechen' von Krisen und Kriegen[384]. Die radikale Reorganisation und Reorientierung des ganzen Wissenschafts–, Universitäts– und Kulturbetriebs, die Lukács als einzig vernünftige Antwort auf die innerwissenschaftliche Orientierungskrise betrachtet[385], begründet er auf eine äußerst selbstwidersprüchliche Weise: als Philosoph geht es ihm um den Beweis, daß der Neokantianismus als gefährliche Blindheit gegenüber dem realen Geschichtsprozeß durchschaut werden muß (wenn es zuträfe, hätte es für ebendieses Wissenschaftssystem manifeste praktische Folgen), als Hegelianer aber unterminiert er diesen Gedankengang im selben Atemzug durch seine Hoffnung auf die »Geschichte«, die – repräsentiert durch das 'Proletariat' – schon von sich aus die qualitative Änderung im Wissenschaftssystem hervortreiben wird (das ist die andere Seite seiner argumentativen Strategie: Er geht von einem realen Widerspruch aus, der das Wissenschaftssystem von außen 'negieren' und 'aufheben' wird).

Liest man Lukács in der Überzeugung, daß dieser allzu positiv gefaßte Geschichtsbegriff (die Hoffnung auf die Realisierung des objektiven 'Widerspruchs') selbst eine Hypostasierung ist[386], so nähert man sich der Position der frühen Frankfurter Schule schon sehr an. In diesem Sinne müßten die Attribute, mit denen er 'das Proletariat' ausstattet, 'zurückübersetzt' werden in das Wissenschaftssystem – eine Intention, die auch Habermas' Theorie des kommunikativen Handelns innewohnt: nämlich in Universitätsbetrieb, Forschung, Literaten– und Künstlertum. Dann sind Universalgeschichte, Neokantianismus, Krise und geschichtliches Subjekt dergestalt zu denken, daß der bei Lukács noch spürbare Geschichtsoptimismus überwunden wird. Konkret hieße das: jener vom Verdinglichungsbegriff postulierte, innerwissenschaftliche Realitätsverlust (»Nominalismus«) und die objektive Verstrickung der gesamten Wissenschaft in eine »mitleidlose Historie« (Habermas) muß – unabhängig von Hegel – so auf den Begriff gebracht werden, daß auch noch die praktische Realisation der Theorie selbst (als Institutionalisierung von praktischen Diskursen) ins Blickfeld geraten kann.

III.1.2 Wissenschaft, Philosophie, Krise

Wer Lukács 'enthegelianisieren' will[387], wird die Frage zu beantworten haben, wie die moderne Wissenschaftstheorie (und nichts anderes könnte mit »formal–rationellem, abstraktem Begriffssystem«[388] gemeint sein) mit dem objektiven Evolutionsprozeß der Gattung zusammenhängt. Ein solches »Eingedenken der Natur im Subjekt«, wie es bei Horkheimer und Adorno heißt[389], müßte sich mit Lukács' Vermittlungsbegriff auseinandersetzen. Die Widersprüche, in die Lukács sich verstrickt, sind offensichtlich: Als Philosoph geht es ihm um die Kritik am internalisierten und vergeistigten gesellschaftlichen Zwang; er durchschaut den Neokantianismus – mit seinem starren Dualismus zwischen Seiendem und Sollendem – als moderne Herrschaftsideologie par excellence und hat ein feines Gespür für die psychische Verkrüppelung, die jener selbst in den privilegierten Schichten zur Folge hat[390]. Die Welt ('Kapitalismus') ist jedoch kein Einzelsubjekt: mäeutischen Kniffen, die in therapie–ähnlichen Situationen durchaus ihren Sinn haben, haften etwas Archaisches an, wenn der Philosoph sich selbst als einsamer Prophet der – noch zu belehrenden – Weltgeschichte gegenüber begreift.

Als Soziologe verfolgt Lukács die krisenhaften Entwicklungsprozesse der Moderne aus der Sicht der Systemtheorie: er strebt eine wissenschaftlich überzeugende Erklärung dafür an, daß ausgerechnet in Europa – und nur in Europa – Institutionen sich haben entwickeln können, die das Organisationsprinzip des Feudalismus (hierarchisch aufgebaute Standesgesellschaft) ein für allemal sprengten, um es durch eine qualitativ anders organisierte Gesellschaftsform zu ersetzen.

Diese beiden Betrachtungsweisen (die philosophische und die soziologische) verbindet er nur mit erheblicher Mühe; zuweilen fungiert der Vermittlungsbegriff ('das Proletariat') wie bei Descartes einst die Zirbeldrüse: als Hilfskonstruktion, die buchstäblich zwischen res cogitans und res extensa vermitteln soll[391]. Dadurch wird er beiden nicht gerecht: weder der Philosophie noch der Wissenschaft. Er redet einer nachhegelschen »Logik des konkreten Begriffs«[392] das Wort; trotzdem gelingt es ihm nicht, 'Reflexion' im psychologischen Sinne soweit von der Hegelschen Geschichtslogik[393] abzukoppeln, daß ein konkretes Programm in sein Blickfeld geriete, dessen Aufgabe es wäre, dem komplexen Zusammenhang von Trieb, Verdrängung, Projektion, Begriffsbildung und Sprache in allen Einzelheiten der Ontogenese nachzugehen. Andererseits fällt »die logische Notwendigkeit der Verknüpfung von Genesis und Geschichte«[394] ebenso dieser – Hegelschen – Ungeschiedenheit zwischen den kritischen Ich–Leistungen des Einzelnen und der Evolution der Gattung zum Opfer; der Neokantianismus ist keine Neurose des Einzelnen, die durch Anamnesis und die Erinnerung an eine Urszene geheilt werden kann. Die systematischen Änderungen von Weltbildern auf makrosoziologischer Ebene müssen handlungs–, system– und kommunikationstheoretisch nachkonstruiert werden; die Krisen, die Lukács gleichzeitig beobachtet und im Sinne der Hegelschen Geschichtslogik deutet, dürfen nicht dadurch trivialisiert werden, daß ökonomischer Zusammenbruch und (Welt–)Bürgerkrieg als biographische Episode eines geschichtlichen Makro–Subjekts gedeutet werden. Nur von einer geschichtsphilosophischen Sicht her, die die Evolution insgeheim – wenn auch nur residual – als Heilsgeschichte deutet (sub specie aeternitatis, als 'Negation der Negation'), könnte Krieg und Krise als eine »Logik der sich wandelnden Inhalte«[395] aufgefaßt werden.

Für die Frankfurter Theoretiker hat sich die Frage, wie die Welt zu erklären sei, immer mehr zu dem Problem verdichtet, wie Philosophie und Wissenschaft 'zusammengedacht' werden können[396]. Die Dringlichkeit dieses Programms ergab sich für die Autoren der Zeitschrift für Sozialforschung aus der Konstellation der dreißiger Jahre: eine rapide sich polarisierende Welt spiegelt sich in einer weltfremden, abstrakten, fatalistisch–blinden 'traditionellen' Theorie wider, die – wie es ihnen schien – dieser Krise nicht nur nicht Einhalt gebot, sondern ihre Existenz wegdisputierte und sogar die allgemeine Verwirrung und Ratlosigkeit verstärkte[397]. Dabei orientiert sich die Horkheimer Gruppe, wie zuvor auch Lukács, insofern noch an Hegels Logik, als auch sie die modernen Wissenschaften mit zwei völlig entgegengesetzten Eigenschaften ausstatten: es gebe keine andere Quelle des verbindlichen Wissens als eben die neuzeitlichen Wissenschaften selbst (diese könnten deshalb als Aufklärung über Metaphysik und Religion nicht geleugnet werden), gleichzeitig aber seien Naturwissenschaftler, Geisteswissenschaftler, Literaten und Künstler (psychisch, und zwar auf Grund ihres Sozialisationsprozesses) in einem diffusen Weltbild befangen, das strukturelle Ähnlichkeiten mit mythischen Weltbildern aufweist.

III.2 Zu Habermas' Begriff der Verständigungsform

Habermas ist der erste, der konsequent eine dialektische Theorie der Gesellschaft und die völlige Loslösung vom Hegelschen System anstrebt: nichts geringeres ist das Programm, das in der Theorie des kommunikativen Handelns mündet. Dabei hat sich die Bedeutung von 'dialektisch' allerdings geändert. Die dialektische Logik von Hegel und Marx befaßt sich mit empirischen wie auch mit philosophischen Analysen, ohne wirklich das Verhältnis von Wissenschaft und Philosophie als solches zu klären; als Problem hat Habermas dies so klar gesehen wie kaum ein anderer. Die gedankliche Seite des Widerspruchs sucht er nicht in dem Kontrast Ökonomie/Gattungsgeschichte, sondern in der schlichten Unvereinbarkeit von wissenschaftlichen, philosophischen (normativ–praktischen) und ästhetischen Denkweisen. Das Problem dieser Unvereinbarkeit wird im heutigen Wissenschaftssystem nur mühsam durch Formalisierung der entsprechenden 'Methoden' entschärft, in der Sache selbst verursacht diese Unvereinbarkeit eine Art intellektueller Dauerkrise:

1. eine konsequente Theorie der sozialen Evolution ist notwendigerweise gezwungen, sich mit Sprache, Mythos und Religion auseinanderzusetzen, was wiederum ohne Preisgabe der – für die Naturwissenschaften konstitutiven – objektivierenden Einstellung zum Erfahrungsgegenstand nicht möglich ist;

2. eine konsequente Transzendentalphilosophie, die 'synthetische Urteile a priori' in ihrer geschichtlichen 'Entwicklungslogik' nachkonstruieren will, ist notwendigerweise gezwungen, das durchzuführen, was die Tradition eine 'materialistische Wende' nennt: Bewußtseinsstrukturen sind nicht unabhängig von einem empirischen Subjekt zu studieren, welches auch einer Tiergattung angehört, deren Naturgeschichte nur mit den Methoden der objektivierenden Wissenschaften studiert werden kann (dabei müssen sich Philosophen eine 'Grundeinstellung zur Welt' vergegenwärtigen – und ggf. aufheben –, die ebenso tief in ihrem eigenen Sozialisationsprozeß verankert ist, wie die objektivierende Einstellung der Naturwissenschaftler: nämlich jene fatalistisch–kontemplative, kommunikative Einstellung, erkennbar an einer prinzipiellen Negation alles Seienden, einer asketischen Abwertung des empirischen Daseins insgesamt[398], die sich ideengeschichtlich auf die griechischen Ursprünge der Philosophie zurückverfolgen läßt);

3. eine engagierte Kunst, die die erstarrten Verhaltens– und Bewußtseinsstrukturen einer auf Katastrophen hinsteuerenden Welt durchbrechen will (oder Formen der Solidarität an inhaltlichen und verbindlichen, an universalistischen moralischen Prinzipien organisatorisch festmachen möchte), ist notwendigerweise gezwungen, auch ihre 'Grundeinstellung zur Welt' partiell zu suspendieren; der Fatalismus von resignierten Theoretikern läßt sich nicht durch einen blinden Aktionismus aufheben, der politische Handlung als einen 'Wert an sich' betrachtet.

Diese drei 'Diskurstypen' haben einen kuriosen Status: Wissenschaft, Philosophie und Kunst können nämlich 'von innen' oder 'von außen' betrachtet werden. Sachlich entsprechen sie von daher den 'Formen des objektiven Geistes' der dialektischen Logik (jedenfalls bei Hegel): empirisch handelt es sich um Institutionen, die eine (von der Evolutionstheorie nachkonstruierbare) Realgeschichte haben; als konkrete Individuen aber erfahren wir sie von 'innen' (oder 'performativ'), d.h. als verbindliche und nicht zur Disposition stehende Kriterien der wissenschaftlichen Objektivität (bzw. der vernünftigen Analyse oder der 'authentischen' Kunstproduktion), denen wir uns fügen müssen, solange wir mit Anspruch auf Wissenschaftlichkeit oder Wahrheit (oder ästhetische Authentizität) auftreten wollen – gleichzeitig sind dies Kriterien, denen wir uns wiederum insofern nicht fügen können, als sie einander wechselseitig ausschließen[399].

Zunächst sind das Antinomien, die eine dialektische Theorie der Gesellschaft zum Anstoß nimmt, kollektiv auftretende Vernunftstandards in ihrem geschichtlichen Wandel zu analysieren; die Dialektik vermutet, daß qualitativ andere als die im heutigen Wissenschaftssystem vorherrschenden Wahrheitskriterien möglich, sogar dringend nötig sind und daß eine Beziehung hergestellt werden kann zwischen 'traditionellen' methodologischen Auffassungen und den fortdauernden Krisen des 20. Jahrhunderts.

Viel hängt aber davon ab, wie der dialektische Begriff der 'bestimmten Negation' zu deuten ist. Das überlieferte Wissenschaftsideal orientiert sich seit Russell, Whitehead, und G.E. Moore in England, der 'Wiener Schule' im deutsch–sprachigen Raum und Dewey, Peirce und James in den USA, an der Gültigkeit von Mathematik und dem Erfolg der experimentell verfahrenden, empirisch–deduktiven Disziplinen (Physik, Chemie, Biologie): eine Einstellung, die durch die neuere Systemtheorie (Parsons, Luhmann) hindurch weiterhin erkennbar ist[400]. Was kann es – vor diesem Hintergrund – bedeuten, eine qualitativ andere Wissenschaft anstreben zu wollen?

Die Strategie, die Habermas seit seinen frühesten Schriften konsequent verfolgt hat, zielt darauf, aus der Binnenperspektive dieser traditionellen Wissenschaftstheorie die Frage zu stellen, wie ein Wissenschaftsbegriff beschaffen sei, der auch die objektivierende Einstellung zur Welt selbst explizit thematisieren würde: dies motiviert letztendlich das Begriffspaar 'instrumentelles Handeln' und 'kommunikatives Handeln'. Die Konfrontation mit Wissenschaftsgeschichte, Handlungstheorie, Sprachtheorie und Linguistik stellt er in den Dienst einer phänomenologischen 'Bewußtmachung' von Attitüden, die geistesgeschichtlich auf Descartes und Kant zurückgehen und sich subjektiv im starren Festhalten an der objektivierenden Einstellung ausdrücken. Mir scheint es, daß die Mehrdeutigkeit im Begriff der 'bestimmten Negation' auch Habermas erhebliche Schwierigkeiten verursacht, denn man scheint ganz andere Richtungen einschlagen zu müssen, je nachdem ob er philosophisch oder systemtheoretisch gedeutet wird. Ist der Neokantianismus eine geschichtliche, spezifische 'Verständigungsform', die wir phänomenologisch zu Bewußtsein bringen müssen, so konstituiert sich Geschichte 'transzendentallogisch', nämlich als Abfolge von 'Verständigungsformen', die wir einzig subjektiv nachkonstruieren können, und zwar dadurch nachkonstruieren, daß wir zunächst 'unsere' moderne Grundeinstellung zur Welt – also die wechselseitig sich ausschließende Grenzziehung zwischen Objektivität, (normativer) Wahrheit und Authentizität – 'aufheben', um überhaupt andere universalpragmatische Einstellungen nachvollziehen zu können.

Wird 'bestimmte Negation' jedoch systemtheoretisch gedeutet, dann haben wir anscheinend jene 'naturgeschichtliche' Perspektive einzunehmen, die Humangesellschaften im Anschluß an Darwin und Marx als selbsterhaltende, an verändernde Umweltbedingungen sich anpassende (oder zugrundegehende), biologisch–kulturelle Systeme versteht[401].

Beim Vergleich dieser beiden Vorhaben fällt auf, daß das Erstgenannte – die gedankliche Durchdringung des Neokantianismus als internalisierter Zwang – nur in der reflexiven Einstellung vollzogen werden kann: die Phänomenologie kann nicht mehr leisten, so scheint es, als die eigene Biographie (im Sinne einer Identifikation mit immer abstrakter werdenden Autoritätsfiguren und –symbolen) durchsichtig zu machen, um aus der Einsicht in vergangene Kausalitäten heutige Einstellungen zu revidieren. Was zu Bewußtsein kommt, sind einerseits die Institutionen, die wir 'internalisiert' haben – die eigentliche Pointe des Habermasschen Arguments gegen Popper[402] –, und andererseits die psychisch–emotionalen Zwänge, die ein auf Konformismus abzielender Sozialisationsprozeß gewaltsam geprägt hat, keineswegs aber die Gattungsgeschichte im allgemeinen[403].

Das zweite Vorhaben (eine systemtheoretische Deutung von 'bestimmter Negation') hat sich, so scheint es, mit der Gattungsevolution auseinanderzusetzen. Was uns auf dieser Ebene begegnet, sind höchst komplexe, lernfähige, organisch–kulturelle Systeme, die nur in der üblichen objektivierenden Einstellung studiert werden können; das gilt auch dann, wenn der Philosoph vermuten mag, daß solche Theorien letztendlich auf eine naturgeschichtliche Erklärung der objektivierenden Einstellung selbst hinauslaufen werden.

Habermas gewinnt das Begriffspaar 'instrumentelles Handeln' und 'kommunikatives Handeln' mit Hilfe einer geschichtlich sehr späten (anscheinend nur mühsam anzueignenden[404]) Kompetenz: der Fähigkeit nämlich, naturwissenschaftliche und transzendentalphilosophische Analysen nicht nur miteinander zu kombinieren, sondern die Widersprüchlichkeit ihrer Anforderungen erfahren zu können[405]. Im Grunde gewinnt er es aus der Gegenüberstellung von Wissenschaft und Philosophie[406], d.h. aus einem – subjektiven – Reflexionsvorgang. Wie kein Zweiter hat Habermas der schlechten Angewohnheit entraten, aus der subjektiven Reflexion gleich eine Kosmologie hervorzuzaubern; daß Erkenntnis und Interesse eher Freud verhandelt als Hegel, ist auf die Einsicht zurückzuführen, daß die gedankliche Durchdringung des Neokantianismus ein Können ist, eine Kompetenz, die eher mit dem zu vergleichen ist, was ein Patient innerhalb der Psychoanalyse erfährt als mit dem Lernen eines geschlossenen Kategoriensystems[407]. Das ist die Fortführung und Vollendung der von Lukács inaugurierten 'psychologischen Wende' in der Erkenntnistheorie. Das Subjekt scheint nicht anders vorgehen zu können, als sich bei der geistigen Durchdringung seiner eigenen Projektionen weltbildähnlicher Synthesen zu bedienen; Prozesse der Selbstverständigung aber dürfen nicht mit den Resultaten (dieser Prozesse) verwechselt werden: in diesem Punkt steckt eine wesentliche Differenz gegenüber Marx[408].

Hat einer die geistig–subjektive Durchdringung des Neokantianismus schon vollzogen, dann stellt sich die faszinierende Frage, wie eine empirische Theorie beschaffen sein sollte, die dieses philosophische Wissen über die prinzipielle Aufhebbarkeit des Objektivismus selbst noch fruchtbar machen d.h. es bewußt auch bei anderen fördern will. Diese aufklärerische Intention scheint, seit Marx, nur dadurch verfolgbar zu sein, daß jene empirischen Vorgänge untersucht werden (in der Ökonomie, Sozialisationstheorie, Linguistik), die ohne eine gleichzeitige Kritik am überlieferten Objektivitäts– und Wahrheitsbegriff nicht erfolgreich analysiert werden können[409]. Zwischen Philosoph und Sozialwissenschaftler wiederholt sich dann jenes aus der Psychoanalyse wohlbekannte asymmetrische Verhältnis von Teilnehmern eines Diskurses, der de facto gar kein Diskurs ist; denn ohne die Aufhebung von Wahrnehmungseinschränkungen, die nur von der einen Seite als Einschränkungen (d.h. als subjektiv aufhebbar) wahrgenommen werden, ist eine Evolutionstheorie im Sinne der Dialektik gar nicht möglich. Die dialektische Methode hat aus dieser Situation das methodische Prinzip der 'immanenten Kritik' gewonnen; sie unterwirft sich bewußt den Regeln des Gegners, um ihn aus seinen eigenen Widersprüchen heraus seiner Abstraktheit zu überführen.

Auch Habermas' Begriff der Verständigungsform ist von diesem ideologiekritischen Grundgedanken motiviert; das erklärt, warum die Theorie des kommunikativen Handelns beides ist: empirische Analyse des Geschichtsablaufs und Kritik am überlieferten soziologischen Wahrheitsbegriff. Der Begriff der 'Verständigungsform' hat aber die entscheidende Schwäche – woran sein früherer Lernniveaubegriff m.E. weit weniger litt –, nämlich daß er auf philosophischer und empirischer Ebene anfechtbar ist. Das möchte ich anhand von Fig. 1 erläutern.

III.2.1 'Kommunikatives Handeln' ist nicht substantialisierbar – subjektive Reflexion versus objektive Reflexion

Das Argument ist folgendes: die zunächst intuitiv arrangierte Abfolge von Weltbildern (Mythos, Religion, frühmodernes Wissenschafts– und Bildungsideal) erlaubt dann eine Einordnung im Sinne der dialektischen Geschichtslogik, wenn der Grad der Ausdifferenzierung von Geltungsaspekten, den jene ermöglichen, untersucht wird[410]. Verständigungsprozesse innerhalb archaischer, hochkultureller und frühmoderner Gesellschaften können miteinander verglichen werden: analysiert man sie in dieser Reihenfolge, dann können sie als eine schrittweise sich vollziehende Aufhebung der Einschränkung möglicher Kommunikation nachkonstruiert werden[411]. Schon archaische Gesellschaften sind um zu überleben gezwungen, über irgendwelche Formen der Ökonomie, der sozialen Integration und der Sozialisation zu verfügen; gleichwohl sind die Mitglieder solcher Gesellschaften – aufgrund der Undifferenziertheit in der Sprache selbst – nicht (wie 'wir') imstande, die instrumentellen, normativen, expressiven und kognitiven Aspekte ihrer täglichen Handlungen unabhängig voneinander zu thematisieren[412]. Sie konfundieren Zwecktätigkeit mit Kommunikation, technisches Scheitern mit Scham und Identitätsverlust, Wunsch und Bedürfnis mit empirischer Realität und mechanischem Prozeß. Aus einem Vergleich zwischen 'unserer' Verständigungsform (d.h. aus dem Weltverständnis eines 'modernen' Subjekts heraus, das nicht anders kann, als Seiendes und Sollendes analytisch zu trennen) und 'ihrer' Verständigungsform (der Mitglieder einer 'primitiven' Gesellschaft) gewinnt Habermas eine kommunikationstheoretisch gegründete Geschichtslogik:

»Magische Praktiken, die von Einzelnen außerhalb der kultischen Gemeinschaft ausgeübt werden, dürfen nicht, wie Durkheim vorschlägt, dem profanen Bereich zugeschlagen werden; Zeremonien, die keineswegs utilitaristisch verstanden werden können, durchdringen nämlich die Alltagspraxis auf breiter Front. Es ist sinnvoll, den sakralen Handlungsbereich nicht auf die kultische Praxis zu beschränken, sondern auf die Klasse von Handlungen auszudehnen, denen religiöse Deutungsmuster zugrunde liegen. Im übrigen bestehen interne Beziehungen zwischen der Struktur von Weltbildern und der Art der kultischen Handlungen: dem Mythos entspricht eine rituelle Praxis (und Opferhandlungen) der Stammesmitglieder, den religiös–metaphysischen Weltbildern eine sakramentale Praxis (und die Gebete) der Gemeinde, der Bildungsreligion der frühen Moderne schließlich die kontemplative Vergegenwärtigung der auratischen Kunstwerke. Auf dieser Linie wird die Kultpraxis im Sinne Max Webers 'entzaubert'; sie verliert den Charakter des Gotteszwangs, wird immer weniger in dem Bewußtsein ausgeübt, daß die göttliche Macht zu etwas genötigt werden kann. Innerhalb des profanen Handlungsbereichs unterscheide ich Kommunikation und Zwecktätigkeit, wobei ich davon ausgehe, daß sich diese beiden Aspekte in der Alltagspraxis auch dort trennen lassen, wo entsprechende Handlungstypen (oder gar Handlungsbereiche, die durch einen dieser Typen bestimmt sind) noch nicht ausdifferenziert sind. Für den sakralen Bereich ist die Unterscheidung von Kommunikation und Zwecktätigkeit nicht relevant. Ich halte den Vorschlag, unter diesen Gesichtspunkten den religiösen Kult und die magische Praxis gegenüberzustellen, für aussichtslos. In einem nächsten Schritt möchte ich die Praxis in den verschiedenen Handlungsbereichen nach dem Grad der Ausdifferenzierung von Geltungsaspekten entwicklungslogisch einstufen: am einen Ende der Skala steht die rituelle Praxis, am anderen Ende die Praxis der Argumentation. Wenn wir außerdem berücksichtigen, daß zwischen sakralem und profanem Handlungsbereich ein Autoritäts– und Rationalitätsgefälle in jeweils entgegengesetzter Richtung bestehen, verfügen wir über die für eine systematische Folge von Verständigungsformen relevanten Gesichtspunkte. Das folgende Schema stellt vier Verständigungsformen dar, die auf der Linie einer fortschreitenden Entbindung des im kommunikativen Handeln angelegten Rationalitätspotentials angeordnet sind. Die Felder (1–2) und (3–4) kennzeichnen die Verständigungsform archaischer, die Felder (5–6) und (7–8) die Verständigungsform hochkultureller, die Felder (9–10) und (11–12) die Verständigungsform frühmoderner Gesellschaften.«[413]

Philosophisch ist einzuwenden, daß der Sakral/Profan–Unterschied wohl als eine Projektion (aus der Sicht des modernen Beobachters) betrachtet werden muß: es gibt zu viele Untersuchungen, die daran zweifeln lassen, daß Mitglieder archaischer Gesellschaften überhaupt der Unterscheidung zwischen Handlungen, die nach religiösen Deutungsmustern und denen, die nicht danach interpretiert werden, mächtig sind[414]. Am überzeugendsten: Georges Gusdorfs Mythe et métaphysique. Danach gehört eine Klassifikation wie sakral/profan eindeutig dem Stadium des rationalen Denkens an. Auf der Stufe, die Habermas die archaische nennt, begegnen wir Gusdorf zufolge nichts außer Erzählung und Ritual. Gusdorf hebt gerade jene Merkmale hervor, die das Einheitliche, Ungeschiedene, Vor–Individuelle der »conscience mythique« akzentuieren: eher haben wir es auf dieser Ebene mit Individuen zu tun, die überhaupt keine Individuen im philosophischen Sinne sind, sondern Mitglieder einer noch undifferenzierten Kollektivität. (»Absence du sens de l' individualité. Pas de notion du corps, ni de la mort«[415]). Selbst die Unterscheidung zwischen Ich und Nicht–Ich fehlt, geschweige denn die Fähigkeit, 'religiös' und 'nicht–religiös' zu differenzieren[416].

Gibt man den Versuch auf, das mythische Bewußtsein 'von innen' her zu verstehen, so bleibt immer noch die andere Perspektive offen: von außen, 'an sich', objektivierend. Zwischen Spätpliozän und Frühpaleolithikum hat sich eine nach eindimensionaler Rangordnung hierarchisierte Primatenhorde in etwas qualitativ anderes fortentwickelt: in den Frühmenschen (Australopithecus, Homo habilis, Homo erectus neanderthalensis nach der anthropologischen Nomenklatur). Gerade dieser Übergang ist aber ohne ein Vorverständnis von den im Tierreich obwaltenden Entwicklungsgesetzen nicht bestimmbar. Deskriptiv eingeführte Merkmale wie Ritus und Sprache vermitteln kein Verständnis vom dem eigentlich revolutionären Moment an diesem Übergang, sie geben nicht an, wodurch es nun erklärbar ist, daß eine bestimmte – anderen Säugetieren keineswegs überlegene – Tiergattung die Macht an sich reißen und sich innerhalb einer geologisch sehr kurzen Periode als unbestrittener Herrscher über den gesamten Planeten durchsetzen kann:

»[ad 1 und 2] Ritualisiertes Verhalten beobachten wir schon in Wirbeltiergesellschaften; vermutlich läuft im Übergangsfeld zwischen Primatenhorden und paläolithischen Gesellschaften die soziale Integration sogar in erste Linie über jene stark ritualisierten Verhaltensweisen, die wir oben den symbolisch vermittelten Interaktionen zugerechnet haben. Erst mit der Umformung primitiver Rufsysteme in eine grammatisch geregelte, propositional ausdifferenzierte Sprache ist der soziokulturelle Ausgangszustand erreicht, wo sich das ritualisierte Verhalten in rituelles Handeln verwandelt – die Sprache eröffnet sozusagen die Innenansicht des Ritus. Wir brauchen uns von nun an nicht länger damit zu begnügen, das ritualisierte Verhalten anhand beobachtbarer Merkmale und hypothetisch angenommener Funktionen zu beschreiben; wir können versuchen, die Rituale, soweit sie sich residual erhalten haben und durch Feldstudien bekannt sind, zu verstehen.«[417]

Mir scheint, daß Habermas sich noch zu sehr vom dialektischen Begriff der 'bestimmten Negation' leiten läßt, um den beiden Reflexionsmomenten (Positivismuskritik, Realgeschichte) gerecht zu werden; hier interferieren sie permanent miteinander. Einerseits erwartet er von der Evolutionstheorie wissenschaftskritische Argumente: »am einen Ende der Skala steht die rituelle Praxis, am anderen Ende die Praxis der Argumentation.« Andererseits ist es Aufgabe der Evolutionstheorie, den soziokulturellen Ausgangszustand (die Bedingungen der Möglichkeit von Geschichte überhaupt) als Endergebnis – und Aufhebung – der im Tierreich herrschenden Anpassungs– und Lernmechanismen zu erklären. Diese zwei Aufgaben schließen einander nicht notwendigerweise aus; dennoch halte ich den von Habermas eingeschlagenen Weg, einen aus der subjektiven Reflexion heraus gewonnenen Begriff (»kommunikatives Handeln«) zu substantialisieren, um diesen als empirische Entität in die Gattungsgeschichte hineinzudeuten, für problematisch.

Seine kritische Kraft verdankt der Begriff »kommunikatives Handeln« der ideologiekritischen Attacke auf das nomologisch–deduktive Erkenntnisideal; im Lichte jeder nichtrestringierten Erfahrung erscheint letzteres monologisch und scholastisch–abstrakt zugleich. Aus dieser richtigen – und wahrhaft befreienden – Einsicht darf aber nicht geschlossen werden, instrumentelles Handeln sei eine Art Robinsonade, in deren Verlauf das einsame Subjekt die Gegenstände in seiner Umgebung nach technischen Regeln akommunikativ manipuliert[418]; auf anthropologischer Ebene ist es gerade nicht sinnvoll, technischen Erfolg unabhängig von intersubjektiver Verständlichkeit zu untersuchen. Denn gerade eine erfolgreiche technische Manipulation ist ein Können, das nur als Endergebnis eines Lernprozesses denkbar ist; gerade der Übergang Hominide/Homo sapiens weist revolutionäre Änderungen im Lernprozeß selbst auf. 'Revolutionär' ist eben die im Tierreich kaum anzutreffende (und wenn, dann rudimentäre) Kompetenz, technisches Können weiterzugeben, eben: zu 'kommunizieren'. Was Habermas mit dem Begriff des 'instrumentellen Handelns' versus dem des 'kommunikativen Handelns' thematisieren will – die mit dem Neokantianismus eintretende Subjektivierung (am Ende: das Verschwinden) moralischer Kategorien und das damit zusammenhängende, unheilvolle Integrationsdefizit auf der Ebene des sozialen Systems – ist ein Prozeß, der erst im bürgerlichen Zeitalter eingetreten ist; deutet man dieses Begriffspaar in die Gattungsgeschichte hinein, dann verschwindet gerade das aus dem Blickfeld, was überhaupt den soziokulturellen Ausgangszustand auszumachen scheint: die (intersubjektive) Kommunizierbarkeit von technischem Können.

Was es damit auf sich hat, kann ich hier nur en passant andeuten. Ein Blick auf die Arbeiten von Konrad Lorenz und seinen Schülern zeigt wie weit seit Darwin das Wissen von der Naturgeschichte eine geschichtliche Naturwissenschaft geworden ist: d.h. inwiefern es schon gelungen ist, die Mannigfaltigkeit der biologischen Erscheinungen auf die ihnen innewohnenden Gesetzmäßigkeiten zurückzuführen. Darwins Begriff der 'natural selection' scheint nicht auszureichen, jenen wirklich großen evolutionären Änderungen gerecht zu werden, die die Stammesgeschichte allem Anschein nach hervorgebracht hat; auch nicht die bemerkenswerte exponentiale Beschleunigung im Evolutionsprozeß auf der ganzen Linie von den Einzellern bis zu den Hominiden. Deshalb steht in der neueren Ethologie weniger die natürliche Auslese als die individuelle und kollektive Lernfähigkeit – Lernprozesse überhaupt – im Zentrum der Forschung. Wenn man will: nicht die Anpassung, sondern erst die Grenzen der möglichen Anpassung scheinen das konkrete Schicksal der einzelnen Gattungen erklären zu können, und damit wird für das Studium der Phylogenese Lernfähigkeit (und die damit zusammenhängenden Begriffe: Information, Kommunikation) zum wissenschaftlich relevanten Phänomen par excellence[419]. Habermas sieht sehr wohl, daß eine materialistische Evolutionstheorie, die den Übergang von der Naturgeschichte in die Realgeschichte vom Menschen nicht der positivistischen Biologie überlassen will (und andererseits auch nicht die Antinomien des Marxschen Arbeitsbegriffs in Kauf nehmen will), sich an dem Komplex Ritus, Mythos und Sprache orientieren muß: das sind (zusammen mit einer Reihe von anatomischen und neurologischen Änderungen), die emergenten Phänomene, die vor etwa drei Millionen Jahren, »im Übergangsfeld zwischen Primatenhorde und paleolithischen Gesellschaften«, wie er sagt, nachgewiesen werden können, und die mit dem evolutionären 'Sieg' 'unserer' Spezies über alle anderen, 'höheren' Primaten verbunden sind. Sie bezeichnen jenes qualitativ Neue, jenes Emergente, das es 'früher' in der Stammesgeschichte nie gegeben hat: eine Form der sozialen Integration, in dessen Verlauf kollektiv geteilte, tradierte 'Objektbesetzungen' im Persönlichkeitssystem (im 'Ich') verankert werden; sie scheinen deshalb zentral mit dem zusammenzuhängen, worum es eigentlich geht: dem Menschwerdungsprozeß im wörtlichen, biologischen Sinne. Im Wort Sieg klingt schon einiges von dem an, was nun dieser neue Integrationsprozeß ermöglichte: gegenüber den konkurrierenden Tierarten (und 'fremden' Urhorden) die physische Vernichtung, gegenüber der sonstigen natürlichen Umwelt die Etablierung einer technischen Verfügungsgewalt. Das Studium von Ritus, Mythos und Sprache ist in der Archaeologie und der Paleoanthropologie nicht von dem zu trennen, was sie ermöglichten und dem sie – rückwirkend – selbst wiederum ihre eigene Weiterentwicklung wohl verdankten: der Kriegsführung, der Lebensmittelproduktion, der Machtausübung. Noch an den heutigen Experimenten mit 'sprechenden' Schimpansen[420] kann man sich den außerordentlichen, ja entscheidenden Durchbruch klarmachen, den Sprache einmal für die Überlieferbarkeit und Tradierbarkeit von technischem Können, von manipulativer Gewandtheit dargestellt haben muß. Kurz: um die realgeschichtliche (und wahrscheinlich auch die ontogenetische: Max Miller) Entwicklung von dem zu erklären, was bei Habermas instrumentelles und strategisches Handeln heißt, müssen sämtliche Merkmale eingeführt werden, die Habermas selbst ausschließlich für das reserviert, was er kommunikatives Handeln nennt: eine gemeinsam geteilte 'Lebenswelt', eine Intersubjektivität der Verständigung, ein System von Personalpronomina, deiktische Ausdrücke, syntaktische Regeln und sämtliche anderen von G.H. Mead exemplarisch analysierten Charakteristika der 'symbolischen Interaktion' beim Menschen. Das Studium des Überganges von Primatengesellschaften in Humangesellschaften – von Natur zur Kultur – ist mit dem Begriffspaar instrumentelles Handeln/ kommunikatives Handeln nicht möglich, solange sie als empirische Handlungstypen aufgefaßt werden. Als Kritik an den erkenntnistheoretischen Voraussetzungen von Biologen und Anthropologen ist dieses Begriffspaar jedoch unüberbietbar. Nur negativ, als Kritik ist dieses Begriffspaar wahr, nicht positiv, nicht als Seiendes.

Das Problem – in der Terminologie Adornos – liegt in der Überanstrengung der subjektiven Reflexion auf Kosten der objektiven Reflexion: es ist nichts weniger also als das alte Problem des objektiven Idealismus in einer neuen Gestalt[421]. Solange Habermas das 'kommunikative Handeln' erkenntnistheoretisch – d.h. als kritischen Gegenpol zum üblichen Objektivismus in der heutigen Wissenschaftstheorie – einführt, ist es eine scharfe und kaum zu überbietende Attacke auf den Glauben – den Lebensnerv des Objektivismus – an eine ontologische 'Korrespondenz' zwischen Begriff und Sache, zwischen res cogitans und res extensa. Das ist jene traditionelle adequatio rei et intellectus, die der Objektivismus nicht zu Bewußtsein bringen kann, ohne sich selbst als Objektivismus aufzulösen. Jede systematische Untersuchung von wissenschaftlichen und nichtwissenschaftlichen Kommunikationsstrukturen – wie etwa von der Sprechakt– und der Handlungstheorie angestrebt – stößt auf Kompetenzen des Subjekts, die notwendige Bedingungen der Möglichkeit von gelungenen 'Verständigungsprozessen' (Habermas) auszumachen scheinen, und die dennoch von der offiziellen Wissenschaftstheorie verleugnet werden: die Parallelen zur Erkenntnistheorie Kantischer Provenienz liegen auf der Hand, aber auch zu Lukács' Geschichte und Klassenbewußtsein. Das erinnert daran, daß die 'Grundeinstellungen zur Welt' nicht bloß linguistische Begriffe sind, die nur in der Sprachtheorie ihre Anwendung fänden, denn sie erneuern nicht 'nur' die dialektische Kritik am abstrakten Materialismus (der im Westen wie im Osten nach wie vor die institutionalisierte Forschung und Wissenschaft beherrscht), sondern – was zumal in den angelsächsischen Ländern weitaus wirksamer ist als der Rekurs auf Kant, Hegel und Marx – tut dies zudem mit den eigenen Mitteln des Objektivismus, nämlich der (nach–Wittgensteinschen) Wissenschaftstheorie selbst[422]. Die Grenzen dieser philosophischen Kritik sind aber (wenn es auch undankbar klingt, gegen Habermas ein Argument anzuführen, dessen zentraler Stellung man erst durch die Arbeiten von Habermas inne geworden ist), 'die Grenzen der Philosophie selbst', denn sie verfährt abstrakt. Kern der Kritik am Objektivismus ist der Beweis, daß die Tabuierung aller praktischen Fragen im Wissenschaftssystem nur geschichtlich–soziologisch erklärbar, nicht aber erkenntnistheoretisch begründbar ist. In der Terminologie von Habermas: eine Kommunikationsstruktur, in der die Beteiligten voraussetzen, praktische Fragen seien nicht begründbar – ja im strikten Sinne nicht einmal diskutierbar –, ist 'systematisch verzerrt', ist 'positivistisch halbiert'. Habermas' Erwiderung darauf ist zum Teil phänomenologisch, zum Teil soziologisch; wenn die Kommunikationsstrukturen, in denen wir befangen sind (denen des Universitäts– und Forschungsbetriebs), 'verzerrt' seien, dann muß es möglich sein, einen Begriff einer nichtverzerrten Kommunikationsstruktur auszuarbeiten:

»Die normative Grundlage für eine in praktischer Absicht entworfene Gesellschaftstheorie finden wir nicht mehr, wie in gewisser Weise noch Marx, in der dialektischen Logik. Zwar kann die Logik einer Selbstreflexion, die den Bildungsgang der Identität eines Ichs durch die Windungen systematisch verzerrter Kommunikationen hindurch zurückverfolgt und demselben Ich analytisch zu Bewußtsein bringt, 'dialektisch' heißen, wenn es Aufgabe der Dialektik ist, im Sinne der Hegelschen 'Phänomenologie' (und einer nicht–szientistisch begriffenen Psychoanalyse) aus den geschichtlichen Spuren unterdrückter Dialoge das Unterdrückte zu rekonstruieren. Dialektisch ist dann, das ist Adornos zentrale Einsicht, allein der Zwangszusammenhang, den das dialektische Denken, indem es diesem sich angleicht, aufsprengt. Dann freilich verschiebt sich unser Problem nur. Denn die Struktur der verzerrten Kommunikation ist kein Letztes, fundiert ist sie in der Logik unverzerrter sprachlicher Kommunikation. In gewisser Weise ist Mündigkeit die einzige Idee, deren wir, wie ich in meiner Frankfurter Antrittsvorlesung behauptet habe, im Sinne der philosophischen Tradition mächtig sind; denn jedem Akt des Sprechens wohnt das Telos der Verständigung schon inne: 'Mit dem ersten Satz ist die Intention eines allgemeinen und ungezwungenen Konsensus unmißverständlich ausgesprochen'. Wittgenstein hat bemerkt, daß der Begriff der Verständigung im Begriff der Sprache liege. Wir können nur in einem selbst–explikativen Sinne sagen, daß sprachliche Kommunikation der Verständigung 'diene'. Jede Verständigung bewährt sich an einem, wie wir sagen, vernünftigen Konsensus; sonst ist sie keine 'wirkliche' Verständigung. Kompetente Sprecher wissen, daß jeder faktisch erzielte Konsensus trügen kann; aber dem Begriff des trügerischen (oder bloß erzwungenen) Konsensus müssen sie den Begriff des vernünftigen Konsensus immer schon zugrundegelegt haben. Verständigung ist ein normativer Begriff; jeder, der eine natürliche Sprache spricht, kennt ihn intuitiv und traut sich darum zu, grundsätzlich einen wahren von einem falschen Konsensus zu unterscheiden. In der philosophischen Bildungssprache nennen wir dieses Wissen a priori oder 'angeboren'. Das beruht auf traditionellen Deutungen. Auch unabhängig von diesen Interpretationen können wir versuchen, die normativen Implikate des Begriffs möglicher Verständigung, der jedem Redenden (und Hörenden) naiv vertraut ist, zu klären.«[423]

Dieser Begriff von Selbstreflexion hat als seinen Ausgangspunkt das empirische Einzelindividuum – konkret wohl den (Unheil ahnenden) Soziologen, der eine verbindliche Alternative zum positivistischen Wissenschaftsmodell und zum Modell der politischen Ökonomie sucht[424]. Die realgeschichtliche Seite sieht Habermas so:
»Im Bezugssystem Handeln–Diskurs läßt sich [...] der normativen Frage nach dem Verhältnis von Theorie und Praxis eine überraschende deskriptive Wendung geben. Einerseits ist die Annahme plausibel, daß der handlungstragende Konsensus auf wie immer bloß faktisch anerkannten Geltungsansprüchen ruht, die nur diskursiv eingelöst werden können; überdies läßt sich zeigen, daß wir eine ideale Sprechsituation wechselseitig unterstellen müssen, wann immer wir einen Diskurs führen wollen. Für kommunikatives Handeln sind mithin Diskurse von grundlegender Bedeutung. Andererseits haben Diskurse in der Geschichte erst spät ihren sporadischen Charakter verloren. Erst wenn für bestimmte Bereiche Diskurse soweit institutionalisiert sind, daß unter angebbaren Bedingungen die generelle Erwartung der Aufnahme diskursiver Gespräche besteht, können sie für eine gegebene Gesellschaft ein systemrelevanter Lernmechanismus werden. In der sozialen Evolution bezeichen solche Institutionalisierungen von bereichsspezifischen Teildiskursen folgenreiche innovatorische Errungenschaften, die eine Theorie der gesellschaftlichen Entwicklung im Zusammenhang mit der Entfaltung der Produktivkräfte und der Expansion der Steuerungskapazitäten erklären müßte. Dramatische Beispiele sind die Institutionalisierung von Diskursen, in denen die Geltungsansprüche mythischer und religiöser Weltdeutungen systematisch in Frage gestellt und geprüft werden konnten: wir verstehen das als Beginn der Philosophie im Athen der klassischen Zeit; ferner die Institutionalisierung von Diskursen, in denen Geltungsansprüche berufsethisch überlieferten, technisch verwertbaren Profanwissens systematisch in Frage gestellt und geprüft werden konnten: wir verstehen das als Beginn der modernen Erfahrungswissenschaften, gewiß mit Vorläufern in der Antike und im ausgehenden Mittelalter; schließlich die Institutionalisierung von Diskursen, in denen die mit praktischen Fragen und politischen Entscheidungen verknüpften Geltungsansprüche kontinuierlich in Frage gestellt und überprüft werden sollten: damals, im England des 17. Jahrhunderts, dann auf dem Kontinent und in den USA, mit Vorläufern in den oberitalienischen Städten der Renaissance, entstand die bürgerliche Öffentlichkeit und im Zusammenhang damit repräsentative Formen der Regierung – die bürgerliche Demokratie. Das sind sehr grobe Beispiele, und gewiß nur Beispiele. Heute werden Traditionsmuster der Sozialisation, die bislang naturwüchsig in kultureller Überlieferung festgesessen haben, durch die Psychologisierung der Kindererziehung und durch die bildungspolitische Planung der Schulcurricula freigesetzt und über einen Prozeß der 'Verwissenschaftlichung' allgemeinen praktischen Diskursen zugänglich gemacht. Ähnliches gilt für Literatur– und Kunstproduktion; die 'affirmative', von der Lebenspraxis abgetrennte, die Transzendenz des schönen Scheins beanspruchende bürgerliche Kultur ist in Auflösung begriffen. Wie vieldeutig solche Phänomene sind, und wie wenig die Erscheinungsform des Diskurses Gewähr bietet für die institutionell gesicherte Ausdehnung des diskursiven Lernmechanismus auf neue, der Tradition entzogene Bereiche der Erkenntnis und der Willensbildung, läßt sich am Beispiel der bürgerlichen Demokratie zeigen. Nachdem die kühne Fiktion einer Bindung aller politisch folgenreichen Entscheidungsprozesse an die rechtlich verbürgte diskursive Willensbildung des Staatsbürgerpublikums im Laufe des 19. Jahrhunderts unter den restriktiven Bedingungen der Produktionsweise zerbrochen ist, hat sich, wenn diese Übervereinfachung gestattet ist, eine Polarisierung der Kräfte ergeben. Auf der einen Seite setzte die Tendenz ein, den Anspruch, politisch–praktische Fragen diskursiv zu klären, als Illusion abzutun und die Wahrheitsfähigkeit dieser Fragen positivistisch zu leugnen. In den Massendemokratien spätkapitalistischer Gesellschaftssysteme sind die bürgerlichen Ideen von Freiheit und Selbstbestimmung eingezogen und der 'realistischen' Deutung gewichen, daß der politische Diskurs in der Öffentlichkeit, in den Parteien und Verbänden und im Parlament ohnehin bloß Schein ist und unter allen denkbaren Umständen auch Schein bleiben wird. Der Interessenkompromiß gehorcht der Logik von Macht und Machtbalancierung durch Gegenmacht, einer Rationalisierung ist er unzugänglich. Demgegenüber hat sich die Tendenz ausgebildet, die in diesem Bande ausführlich erörtert wird: der Versuch, zu erklären, warum die Ideen der bürgerlichen Revolution notwendig falsches Bewußtsein, warum sie Ideologie bleiben müssen und nur von denen verwirklicht werden könnten, die durch ihre Stellung im Produktionsprozeß und die Erfahrung ihrer Klassenlage dazu disponiert sind, die bürgerliche Ideologie zu durchschauen. Marx kritisiert gleichermaßen die naive Forderung, die bürgerliche Demokratie zu schaffen, wie auch den unverhohlenen Widerruf der bürgerlichen Ideale. Er zeigt, daß Demokratie als bürgerliche nicht zu realisieren ist. Diese Einsicht beruft sich auf eine Kritik der Politischen Ökonomie, die sich als Ideologiekritik versteht. Das Praktischwerden dieser Kritik ist Aufgabe der Kommunisten. Daraus entwickelt sich die kommunistische Partei. Mit diesem Typus der Organisation wird etwas sehr Merkwürdiges institutionalisiert: nach außen, gegenüber dem Klassenfeind, strategisches Handeln und politischer Kampf; nach innen, gegenüber der Masse der Lohnarbeiter, Organisation der Aufklärung, diskursive Anleitung von Prozessen der Selbstreflexion. Die Vorhut des Proletariats muß beides beherrschen: die Kritik der Waffen und die Waffen der Kritik. An dieser Stelle wird die Gattungsgeschichte, die in immer neuen Schüben die diskursive Form der Problemlösung naturwüchsig institutionalisiert hat, eigentümlich reflexiv. Um mit Willen und Bewußtsein diskursive Willensbildung als Organisationsprinzip des Gesellschaftssystems im ganzen durchzusetzen, soll nun der politische Kampf von einer Theorie, die die Aufklärung sozialer Klassen über sich selbst ermöglicht, abhängig gemacht werden.«[425]

'Die Institutionalisierung von Diskursen' ist hier der Schlüsselbegriff. Das ist auf der realgeschichtlichen Seite Habermas' Äquivalent zum Marxschen Begriff der Produktionsweise. Ursprung der Philosophie, Ursprung der empirischen Naturwissenschaften, Ursprung der bürgerlichen Demokratie und Öffentlichkeit: das sind auf der 'subjektiven' Seite (seitens der 'Weltbildrationalisierung', um den von Habermas bevorzugten Weberschen Terminus zu benutzen) die evolutionären Errungenschaften, die mit dem, was sich auf der 'objektiven' Seite (Etablierung von Institutionen) abspielt, in einem wechselseitigen Verhältnis stehen: erst die griechische Polis ermöglicht das, wovon sie selbst wiederum abhängig ist – die auf Dauer gestellte diskursive Überprüfung von überlieferten magisch–religiösen Gebräuchen. Die erste 'Aufklärung' bringt den ersten 'profanisierten' Handlungsbereich mit sich und d.h.: einen Handlungsbereich, der nicht mehr unter dem rituellen Gebot steht, sondern eher den Entscheidungen des Einzelnen überlassen wird. Subjektiv bricht der Mensch (wenn es real auch eine Befreiung ist, die sich auf eine zahlenmäßig recht kleine Klasse von männlichen Bürgern beschränkt) aus dem 'Mythos' heraus, ist nicht länger in einem 'geschlossenen Universum' von religiösen, unreflektierten Ver– und Geboten eingebunden; objektiv können sich eben deswegen Institutionen etablieren, deren Funktion es wird, zum ersten Mal in der Geschichte einen allgemeinen (diskursiv erst gebildeten) profanisierten Willen politisch durchzusetzen. Dieser erste Profanisierungsschub ('Philosophie') und die in ihren Ansätzen jetzt erkennbaren Vorformen zukünftiger Institutionen staatlich organisierter Klassengesellschaften konstituieren sich sozusagen wechselseitig: das ist hier die Auffassung von 'Realdialektik'.

Ähnlich auf der nächsten Stufe der Gattungsevolution. Naturwissenschaft, universelles Naturrecht (die »kühne Fiktion einer Bindung aller politisch folgenreichen Entscheidungsprozesse an die rechtlich verbürgte diskursive Willensbildung des Staatsbürgerpublikums«) und autonome Kunst sind subjektiv ein nicht wieder rückgängig zu machender Ausbruch aus der mittelalterlichen Ordo, denn sie sind ein genuiner 'Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit'. Die geistig–intellektuelle Autorität der Kirche wird gebrochen; letzte Apellationsinstanz ist nicht länger eine kirchliche Synode, sondern das Gewissen des einzelnen Subjekts. Objektiv ermöglicht dieses neue Weltbild (diese 'zweite' Aufklärung) das, wovon es rückwirkend wiederum stabilisiert wird: den politisch autarken (zunächst nur gegen äußere Feinde bewaffneten) Nationalstaat und eine durch die Entscheidungen von Privatbürgern gesteuerte (und deshalb von der 'diskursiven Willensbildung' weitgehend abgekoppelte) Ökonomie.

Dieses kurze Resumé soll wenigstens Folgendes hervorheben: daß bei beiden eben genannten 'Übergängen' in der Gattungsevolution die fundamentale ('revolutionäre') Umwälzung auf der ('subjektiven') Weltbildebene mit einer objektiven Umwälzung 'gepaart' zusammen gingen, wie immer man diese 'Wechselwirkung' nun bestimmen will.

Daß philosophiegeschichtlich der Identitäts– und Reflexionsbegriff für diese beiden Prozesse gleichermaßen herhalten mußte (subjektiv eine qualitative Änderung im 'Bewußtsein', objektiv die Gründung von neuen Institutionen), braucht uns nicht davon abzuhalten, beide Prozesse analytisch zu trennen.

Auf die heutige Welt aber übertragen: Wie sieht Habermas nun die objektive Seite der 'Umwälzung'? (Die subjektive Seite ist ja das Programm einer 'qualitativ neuen Wissenschaft', deren Zweck es ist, den gesunden Realismus des 'objektivierenden Denkens' zu erschüttern und 'aufzuheben'). »Mit Willen und Bewußtsein diskursive Willensbildung als Organisationsprinzip des Gesellschaftssystems im ganzen durchsetzen«: auf solche Sätze stößt der wohlgesinnte Leser, der Habermas' Kritik an der falschen Abstraktheit der offiziellen Wissenschaftstheorie aufgenommen hat, und der nun gerne wissen möchte, was nun folgen soll, was nun zu tun sei. Daß dieses 'Tun' keine 'aktionistische Zutat' zum Materialismus ist, sondern gerade die differentia specifica zur 'traditionellen' Theorie ausmacht, ist bei Habermas selbst nachzulesen: mitnichten geht es darum – so heißt es etwa in dem programmatischen Aufsatz »Zwischen Philosophie und Wissenschaft: Marxismus als Kritik« –, die Geschichtsphilosophie zu erneuern, sondern darum, sie als Philosophie zu 'durchbrechen'[426]; weshalb bei Habermas das Wort 'Geschichtsphilosophie' immer den Zusatz 'in praktischer Absicht' erhält. Die Antwort auf diese praktische Frage nach dem 'Was tun?' fällt bei Habermas dennoch eigentümlich abstrakt aus. Ein Grund für die reale Krisenhaftigkeit der Welt vermutet er im 'Strukturwandel der Öffentlichkeit': d.h. in der systematisch verursachten (und zum Teil bewußt geplanten) Verblendung durch die Massenmedien. Einen zweiten Grund vermutet er in einer tiefgreifenden Änderung im Sozialisationsprozeß der Industriegesellschaften – in ihrer 'Triebstruktur'. Dieser Bildungsprozeß findet zunehmend unter Bedingungen statt, wo Wissenschaft und Technik die letzten Reste der verhaltenssichernden 'praktischen Vernunft' verdrängen[427]. Deshalb gehören bei Habermas die zwei Gegenbegriffe zusammen: Aufklärung und Selbstreflexion. Dies leitet ihn zu der ganz und gar nicht trivialen Überlegung, ob »[...] das Praktischwerden der Selbstreflexion zur Form des politischen Kampfes – und damit legitimerweise zur Aufgabe einer kämpfenden Organisation gemacht werden (kann)?«[428]. Aber die Theorie der Geltungsansprüche, die Theorie des kommunikativen Handelns, ist nur zum Teil ein Ersatz für die Marxsche Wertlehre. Letztere nahm ihren Ausgangspunkt, wie 'vermittelt' diese beiden Pole auch real sein mögen, nicht vom Gedachten, sondern von Seienden. Dem liegt die entscheidende Einsicht zugrunde, daß der Tausch als letztinstanzliche Triebkraft dieser Welt, in der wir leben – als wirklich vermittelnde Instanz des Bewußtseins – nicht selbst Bewußtsein sei, nicht wieder – Pointe der Lukács'schen Polemik gegen Hegel in Geschichte und Klassenbewußtsein – nach idealistischem Usus 'deduziert' werden kann, ohne gerade jener realen Resignation Vorschub zu leisten, deren Bekämpfung der Materialismus einmal meinte. Das Unwiderstehliche an der Produktionsweise – die reale Macht, die sie nach Marx über das Tun und Denken der Menschen ausübt – verdankt diese gerade dem Umstand, daß sie (anders als das Kantische Apriori) mehr ist als ein bloß 'Gedachtes' und daß deshalb ihre 'Abschaffung' oder 'Aufhebung' weit mehr erfordert als Bewußtseinsänderung, wie unerläßlich letztere auch sein mag.

Aus solchen Überlegungen folgt noch lange kein Plädoyer für eine Rückkehr zur Politischen Ökonomie: befreiend an Habermas' Anknüpfung an Psychoanalyse und Evolutionstheorie, an Freud und Darwin, ist, daß Fragen, die sich immer noch (und vielleicht jetzt erst recht) aus der 'Aufarbeitung' der hegelschen und nachhegelschen Philosophie ergeben (das Verhältnis von Subjekt und Objekt, Denken und Handeln, Begriff und Sache, Bewußtsein und Sein, Ideologie und Gesellschaft), sich durch empirische Studien ergänzen und kontrastieren lassen, ohne wiederum in jenen Ökonomismus zurückzufallen, gegen den der Hegelmarxismus einmal mit Recht aufbegehrte. Aber solche Überlegungen können vielleicht doch dazu dienen, daran zu erinnern, daß eine dialektische Theorie der Gesellschaft sich nicht in einer immanenten Kritik am naturbeherrschenden Bewußtsein erschöpft, sondern ebensosehr den umgekehrten Weg einschlägt: nämlich das Bewußtsein aus den objektiven Strukturen zu erklären, es nicht nur 'von innen' zu verstehen, sondern es auch 'von außen', als 'gegenständliche Tätigkeit' zu erklären.

»Praxis wird aufgeschoben und kann nicht warten; daran krankt auch Theorie. Wer jedoch nichts tun kann, ohne daß es, auch wenn es das Bessere will, zum Schlechten auszuschlagen drohte, wird zum Denken verhalten; das ist seine Rechtfertigung und die des Glücks am Geiste. Dessen Horizont muß keineswegs der einer durchsichtigen Beziehung auf später mögliche Praxis sein. Vertagendes Denken über Praxis hat allemal etwas Ungemäßes, auch wenn es aus nacktem Zwang sie aufschiebt. Leicht jedoch wird alles verderben, wer sein Denken durchs cui bono gängelt. Was einmal einer besseren Praxis obliegt und zuteil wird, kann Denken, der Warnung vorm Utopismus gemäß, jetzt und hier so wenig absehen, wie Praxis, ihrem eigenen Begriff nach, je in Erkenntnis aufgeht. Ohne praktischen Sichtvermerk sollte Denken so sehr gegen die Fassade angehen, soweit sich bewegen, wie ihm möglich ist. Eine Realität, die gegen die überlieferte Theorie, auch die bislang beste, sich abdichtet, verlangt danach um des Bannes willen, der sie umhüllt; sie blickt das Subjekt mit so fremden Augen an, daß es, seines Versäumnisses eingedenk, die Anstrengung zur Antwort nicht sich ersparen darf. Das Verzweifelte, daß die Praxis, auf die es ankäme, verstellt ist, gewährt paradox die Atempause zum Denken, die nicht zu nutzen praktischer Frevel wäre.«[429]

Zusammenfassung

Habermas' Begriff des Historischen Materialismus ist wahr als Kritik, aber nicht als Gesellschaftstheorie, nicht als Wissenschaft des Seienden:

– Als Kritik an den metaphysischen Voraussetzungen der 'naturbeherrschenden Vernunft', am wissenschaftlich–technokratischen Bewußtsein, ist dieser Begriff unüberbietbar, denn anders als andere antipositivistische Richtungen (etwa der Existentialismus, die Hermeneutik, die Ontologie, der Neo–Kantianismus) ist hier eine strikt immanent verfahrende Kritik am Werk, die keine vom gegnerischen Lager nicht anerkannten Präsuppositionen zuläßt: ihr Ausgangspunkt ist der Szientismus selbst. Dieser aber wird nicht mit einem philosophischen (nicht weniger abstrakten) Vernunftbegriff konfrontiert, sondern mit Selbstwidersprüchen, die positivistisch nicht zu lösen sind: die formale Logik und der abstrakte Empirismus verschaffen uns ein universal gültiges (d.h. von subjektiven 'Zutaten' gereinigtes) Bild von der objektiven Welt, aber mit eben diesen objektiven 'Methoden' selbst kann gezeigt werden, daß jedes derartige Weltbild sprachliche und symbolische Elemente enthält, die auf die 'Interessen' einer biologischen Gattung zurückgehen, die nicht anders kann, als das sie umgebende sinnliche Chaos unter der 'quasitranszendentalen' Perspektive ihrer eigenen praktischen Bedürfnisse zu schematisieren.

– Als Gesellschaftstheorie ist Habermas' Begriff des Historischen Materialismus andererseits unwahr. Was Habermas instrumentelles Handeln nennt, ist kein 'Letztes'; die logisch–begrifflichen und physiologisch–leiblichen Kompetenzen, die für gelungene zweckrationale Manipulationen in der 'Außenwelt' vorausgesetzt werden müssen, sind selber Produkt eines aufwendigen Lernprozesses, der ohne sprachliche Kommunikation nicht denkbar ist. Deshalb muß der Versuch, einen von allen instrumentell–manipulativen Komponenten gereinigten Kommunikations– und Verständigungsbegriff als geschichtliches Periodisierungskriterium einzuführen, fehlschlagen, denn dieser blendet gerade jenes Moment im Evolutions– und Geschichtsprozeß aus, das für den Übergang von Natur zur Kultur aller Wahrscheinlichkeit nach ausschlaggebend war und nicht ignoriert werden kann (läßt man sich von den Resultaten der nach–Darwinschen Forschung leiten): das Moment der intersubjektiven Kommunizierbarkeit von technischem Können.