NIW, 9. April 1993

 

'Das können wir ja doch nicht lesen...'

Hebräische Schrift im nordholländischen Oudesluis

 

von Monique Marreveld

 

Am Grote Sloot im nordholländischen Oudesluis steht ein altes Bauernhaus. Dort werde ich gastfreundlich von Jan Krijgsman empfangen, einem langjährigen Mitarbeiter der Schul­beratungsstelle in Den Helder, doch mittler­weile im Vorruhes­tand. Im aktiven Vorruhe­stand allerdings. Er ist Mitglied einer Laien­theatergruppe, wo er in dieser Saison Jakob Gensch, den Leiter der jüdischen Polizei in Wilna, in dem Theaterstück »Ghetto« von Joshua Sobol spielt. Das Stück wurde von 'T Miertejater aus Schagen aufgeführt und hat die besten Aussich­ten beim diesjährigen Amateur­theaterfestival. Doch deshalb hat er mich nicht kommen lassen. Er will mir etwas zeigen: eine alte Pergamentrolle.

 

 

Die Rolle ist ungefähr drei Meter lang, fünfzig Zentimeter hoch und mit hebräischen Buchstaben beschrieben. Die Rückseite ist mit blauweiß-kariertem Stoff beklebt, dessen umgenähter Saum an der Vorderseite sichtbar ist. Der Griff ist aus altem, gedrechselten Elfenbein. Krijgsman hat die Rolle von seinem Vater geerbt, der sie seinerseits nach Kriegsende von einem jüdischen Freund, Ies van Gelder, bekam. »Ich will nichts mehr damit zu tun haben, willst du sie nicht?« waren dessen Worte. Die Geschichte wird an einem großen Tisch im Wohnzimmer des Bauernhauses erzählt. Mutter, Schwester, Ehefrau, eine Tochter und ein Freund hören zu.

Jan Krijgsman hat dies alles wiederum von seiner Mutter gehört – »Mam, verbesser' mich, wenn ich 'was Falsches erzähle« –. Mutter Krijgsman ist 89 Jahre alt und fällt ihrem Sohn im Verlauf der Geschichte auch tatsächlich ab und zu ins Wort. Jan Krijgsman ist Jahrgang 1933, »das Jahr, in dem Hitler an die Macht kam, denke ich immer«. Ungefähr sechzehn Jahre alt war er, als sein Vater die Rolle von Van Gelder bekam. »Vater kam ganz stolz damit nach Hause«, fügt die Schwester Gré hinzu. »Ich hab' da auch noch 'reingeguckt. Aber, na ja, das konnten wir natürlich nicht lesen, das ist doch Hebräisch, oder?«

Jan Krijgsman: »Es muß ungefähr 1949 gewesen sein, als Pa die Rolle bekam. Ies zog damals nach Durban, Südafrika, und fragte, ob mein Vater mitwollte. Ich weiß noch, daß Mutter im Bett lag und weinte. Papa mußte versprechen, nicht fortzugehen. Wir blieben hier. Als Ies fortging, kam Papa mit der Rolle nach Hause. Als ich auf der Pädagogischen Hochschule war, bin ich damit einmal, zusammen mit Jan van Deutekom, meinem Kommilitonen, zu Pfarrer Van der Sluijs nach Barsinger­horn gegangen. Der sagte nur, daß es Hebräisch sei, weiter nichts. Daraufhin gingen wir ein bißchen enttäuscht wieder weg.«

»Ich habe die Rolle schließlich von meiner Mutter ausgeliehen, als ich beim 'Miertejater' den Otto Frank in dem Stück 'Anne Frank' spielte. Erst später erfuhr ich von meiner Mutter, was es mit dieser Rolle und Ies während des Krieges alles auf sich hatte.«

»Mein Vater Aage Krijgsman besaß vor dem Krieg eine Metzgerei am Binnenhafen in Den Helder. Einer seiner Kollegen war der Metzger Van Gelder. Schweinefleisch verkaufte er nicht in seinem Geschäft (Van Gelder war ein orthodoxer Jude, d. Red.). Nach dem Einfall der Deutschen in den Niederlanden veränderte sich anfangs wenig für beide Familien. Bis Vater Krijgsman auf­gefordert wurde, für die Wehrmacht zu schlach­ten.«

Dies lehnte er ab. Er mußte seinen Laden schließen und ging zur Feuerwehr, um dort sein Brot zu verdienen. Im nachhinein hat ihm das noch sehr zu schaffen gemacht. Dann sagte er: 'Verdammt, hätte ich's bloß getan, denn die anderen Metzger, die eingewilligt hatten, hatten ganz schön viele Vorteile davon.' Aber, na ja, so war Vater nicht. Das war nichts für ihn. »Vater Van Gelder mußte seinen Laden kurz darauf eben­falls schließen, wenn auch aus den uns wohlbe­kannten anderen Gründen.«

Ab diesem Zeitpunkt verloren sich beide Kollegen aus den Augen. Die Krijgsmans wurden kurz nach der Bombardierung Den Helders am 24. Juni 1940 nach Alkmaar evakuiert. Die Van Gelders blieben; Vater und Mutter wurden schließlich depor­tiert und Sohn Ies tauchte zusammen mit seiner jungen Frau in einem großen Lagerhaus in der Zuidstraat unter.

»Mitten in Den Helder, das war was! Die Stadt war damals im Zusammenhang mit der dortigen Präsenz militärischer Einrich­tungen zum 'Schutz­gebiet' erklärt. Man durfte nur mit spezieller Genehmigung dort wohnen.« Außerdem wimmel­te es dort von deutschen Militärs. Was danach geschah, ist Teil der mündlichen Über­lieferung aus Den Helder; die Krijgsmans wußten davon nur vom Hörensagen; genauer gesagt, von Riesel­man, einem gemeinsamen Bekannten Van Gelders und Krijgsmans.

Nicht nur Krijgsman und Van Gelder verloren ihre Läden, auch der Lebensmittelhändler Rieselman mußte das Schutzgebiet Den Helder verlassen. Sein Geschäft befand sich neben dem Lager­haus in der Zuidstraat. Er wurde nach 't Zand evakuiert, durfte jedoch ab und zu seinen Laden aufsuchen, um dort nach dem Rechten zu sehen. Es wurden folgenreiche Fahrten.

»Nach dem Krieg erfuhren wir, wie Rieselman dreimal pro Woche nach Den Helder gefahren war, ungefähr sechzehn Kilometer von 't Zand aus mit dem Fahrrad. Dann brachte er den Van Gelders immer Lebensmittel auf den Speicher des Lagerhauses. Auf die Dauer wurde klar, daß die Familie dort nicht bleiben konnte. Ies van Gelders Frau war schwanger, und als die Wehen ein­setzten, wurden sie mitten in der Nacht zu Doktor Loesberg gebracht, der vielen jüdischen Leuten geholfen hat. Bis Krieg­sende waren die Van Gelders dann bei ihm untergebracht.«

Nach Kriegsende kehrte Krijgsman nach Den Helder zurück und machte einen Laden in der Nieuwstraat auf. Dreihundert Meter weiter eröffnete auch Van Gelder wieder eine Metzgerei. Manchmal kam es vor, daß Van Gelder und Krijgsman gemeinsam im Schlachthof hinter Van Gelders Laden gemeinsam schlachteten; als Gegenleistung machte Krijgsman Van Gelders Kunden das Schweinefleisch zurecht. Denn obwohl »Ies nichts davon wissen wollte«, war sein Geschäft noch immer koscher. »Manchmal kam auch ein Rabbiner, um zu schlachten.«

Schließlich beschloß Van Gelder doch, fort­zuziehen; laut Familie Krijgsman hatte er den Kalten Krieg satt. »Das geht hier bestimmt nicht gut, sagte er oft«, laut Jan Krijgsman. »Ies kam einmal pro Jahr nach Den Helder zurück, für Riessel­mann hatte er damals ein kleines Haus gekauft und meinem Vater schickte er jeden Monat Geld, damit der davon Riesselmann ein Fleischpaket zusammenstellte.« Nach Ies' Tod verlor die Familie Krijgsman den Kontakt zur Familie Van Gelder. Die Pergamentrolle geriet erneut in Vergessenheit, bis Jan Krijgsman Gensch auf der Bühne spielen sollte. Für die wiederauf­gefundene Rolle ist er nun auf der Suche nach einem angemessenen Ort.