NIW, 30.4.1993

Die Esther-Rolle ist wieder daheim

 

Eine über vierzig Jahre alte Geschichte scheint endlich ihren Abschluß gefunden zu haben. Vor drei Wochen bat Jan Krijgsman aus Oudesluis das NIW um Hilfe. Er war auf der Suche nach einem angemessenen Aufbewahr­ungs­ort für eine alte Per­gamentrolle mit hebräischer Inschrift, die er von seinem Vater geerbt hatte. Der alte Krijgsman wiederum hatte sie seiner­seits von einem jüdischen Kollegen, Ies van Gelder, erhalten, als dieser nach Südafrika emigrierte. Wenige Tage nach der Veröffentlichung meldete sich ein Interessent: Ies van Gelders Sohn.

Krijgsman, ein Katholik, hatte die Rolle jahrelang im Schrank aufbewahrt und wollte sie nun fortgeben. Anfang April erzählte er seine dazugehörige Geschichte. Von seinem Vater, der Metzger in Den Helder war, von dessen Kollegen Ies van Gelder, der hundert Meter weiter eine koschere Metzgerei betrieben hatte, und von den Emigrationsplänen jenes Ies. Van Gelder war tatsächlich mit Frau, Sohn und Tochter nach Südafrika gezogen und hatte die Pergamentrolle Krijgsman mit den Worten: »Ich will nichts mehr damit zu tun haben« überreicht.

Als Jan Krijgsman älter wurde, nahm er die Rolle aus seinem Elternhaus mit, aber im Lauf der Zeit verschwand sie doch wieder in einem Schrank. Vor einem Monat beschloß Krijgsman, nachdem er durch das Theaterstück »Ghetto«, in dem er eine der Hauptrollen spielte, auf diese Idee kam, die Rolle wieder hervorzuholen und ihr einen angemessenen »jüdischen Aufbewah­rungsort« zu verschaffen.

Zwei Tage nach Veröffentlichung seiner Geschichte im NIW wurde Jan Krijgsman angerufen. Am anderen Ende war ein Mann: »Sie suchen doch einen Van Gelder aus Südafrika. Also, das bin ich, oder jedenfalls derjenige, der von dieser Familie übrig­geblieben ist.« Noch am selben Nachmittag war Freek van Gelder bei Krijgsman im Bauernhaus in Oudesluis zu Gast. Weit weg von zu Hause, denn Ies van Gelders Sohn lebt inzwischen bereits seit Jahren im deutschen Frankfurt.

Freek van Gelder wurde am 10. April 1945 in Den Helder geboren, im Unterschlupf. Als er fünf Jahre alt war, emigrier­ten seine Eltern nach Südafrika, wo sie wieder eine Metzgerei eröffneten. Über Judentum oder Krieg wurde nie gesprochen. Nach dem Tod seiner Eltern hat sich Freek allmählich für deren Geschichte interessiert: die Phase ihres Untertauchens in Den Helder, seine Großeltern, das Judentum. Auf der Suche nach Gleichgesinnten besuchte er im vergangenen Jahr den Kongreß der ehemals versteckten Kinder in Amsterdam.

Während seines Besuches bei Freunden in Den Haag, die er auf dem Kongreß kennengelernt hatte, fiel Freek van Gelder zufäl­lig eine Ausgabe des NIW in die Hände. Beim Durchblättern stieß er auf die Geschichte seines eigenen Vaters. »Nie im Leben, nicht mal in meinen kühnsten Träumen, hätte mir einfal­len können, daß meine Eltern so etwas wie diese Rolle besaßen«, sagt er nun. »Nie, wirklich kein einziges Mal, hat mein Vater so etwas je erwähnt. Es war genau so, wie Jan (Krijgsman, d. Red.) es sagte: 'Nimm dieses Ding, ich will es nie mehr sehen und goodbye'.«

Inzwischen wurde die Rolle von einem Experten grob datiert, der sie als »eine schöne nieder­ländische Handschrift« umschreibt. Es handelt sich um eine Esther-Rolle von Ende des 18. oder Anfang des 19. Jahrhunderts. Auf dem Griff – wahr­scheinlich aus Elfenbein – stand eine kurze Inschrift, die jedoch nicht mehr zu entziffern ist. Dem Experten zufolge gibt es ansonsten keine weiteren Hinweise, aus denen der ursprüngliche Besitzer der Rolle oder der Auftraggeber zur Anfertigung der Handschrift zu entnehmen wäre. Er hält es durchaus für möglich, daß die Rolle für Privatzwecke angefer­tigt wurde.

Freek van Gelder, dem Jan Krijgsman die Rolle inzwischen zurückgegeben hat, erwägt momentan eine eventuell erforder­liche Restaurierung sowie eine angemessene Aufbewahrung in Absprache mit dem Rabbiner Awraham Soetendorp von der Liberalen Jüdischen Gemeinde Den Haag. (MM)