NIW, 25. März 1994, S. 17f.

Von Kapstadt nach Den Haag auf der Suche nach Solidarität

(von Monique Marreveld, Frank­furt am Main)

 

Freek van Gelder wurde in den Niederlanden geboren, besuchte im Oranje-Freistaat (Süd­afrika) die Grundschule und studierte in Groß­britan­nien und der Bundesrepublik Deutsch­land. Er ist Philosoph und am Frank­furter Institut für Sozialforschung tätig. Sein Leben gleicht einer Odyssee, die aus seinem per­sönli­chen Hinter­grund resultiert: als ältestes Kind von durch den Krieg schwer traumatisier­ten Eltern kam er in deren Versteck vor den Nazis zur Welt. Doch nun hat er endlich, fast 50-jährig, mit der Auf­arbeitung seines eigenen Leides begon­nen.

 

Einmal mitten unter Menschen sein, die sofort verstehen, wovon man spricht. Dafür war Freek van Gelder vor zwei Wochen in Amersfoort. Um dort an dem kleinen Kongreß der während der Besatzungszeit unterge­tauchten Überlebenden teil­zunehmen, kam er extra aus Frankfurt, wo er inzwischen lebt; rund 500 km von seinem Geburts­ort Den Helder entfernt. Dort war er am 10. April 1945 geboren worden. Wo dies genau war, ob bei Doktor Loesberg in dessen Haus oder im Versteck am Binnenhaven, weiß er nicht. Mit seinen Eltern hat er darüber nie reden können.

»Meine Mutter erzählte mir später einmal, daß sie beschlossen hatte, mich zur Welt zu bringen, weil sie dachte, daß mein Vater sonst in jenem dunklen Kellerversteck verrückt werden würde. Wenn sie ein Kind be­kommen würde, hätte er etwas, womit er sich ablenken könne. Im Sommer 1944 dachte nämlich nicht nur sie, daß der Krieg schon so gut wie vorbei wäre. Niemand hatte mit diesem letzten Winter und dem völligen Zusam­menbruch der Lebensmittel­versorgung gerechnet. Meine Eltern haben sich den letzten Hungerwinter mit Fisch­köpfen ernährt, waren dem Hungertod sehr nahe.«

Als Freek fünf Jahre alt war, verkaufte sein Vater seinen Metzger­laden in Den Helder und emigrierte mit der ganzen Familie nach Süd­afrika. Und dies zwei Jahre nach Einführung der Apartheid (1948). »Mein Vater ängstigte sich sehr vor einem neuen Kriegs­ausbruch in Korea. Er beschloß, auch wegen der Sprache nach Südafrika zu ziehen. Man brauch­te dort kein Englisch zu lernen wie jene, die nach Australien oder Neuseeland auswanderten. Afri­kaans schien ihm doch sehr mit dem Nie­der­ländi­schen verwandt zu sein. Mehr wußte er nicht über dieses Land. So gerieten wir in den Oranje-Frei­staat, in eine Kleinstadt im absolut reaktionärsten und rassistischsten Teil des Landes.«

Daß die Familie Van Gelder in Südafrika nicht willkommen war, ent­deckte Freek erst später. »Als wir dort einwanderten, bestand innerhalb der süd­afrikanischen Gesetzgebung bereits eine Ge­heim­klausel, nach der alle Juden abzuweisen waren. Auch in jener Kleinstadt, in der wir lebten, gab es einen aus­geprägten Antisemitismus. Ich erinnere mich noch gut daran, daß die Nachbarn 'Jid Jid' als Schimpfwort riefen. Doch niemand wußte, daß auch wir jüdisch waren. Wir hatten zu Hause auch nichts, aus dem sich eine Zugehörigkeit zum Ju­dentum schließen ließ. Die Estherrolle, die wir in Den Helder besaßen, hatte mein Vater noch kurz vor seiner Abreise mit den Worten: 'Bitte nimm dieses Ding an dich, ich will es nie wieder sehen!' an Freunde weitergege­ben.«

Wie auch in vielen anderen jüdischen Familien war die jüdische Herkunft in der Periode nach dem Krieg das Familiengeheimnis schlechthin. Freek: »Mein Vater war furchtbar wütend auf meine Mut­ter, als sie es uns eines Tages doch erzählte. Dies war eine ganz typische Reaktion für die erste Generation der schwerst­traumatisierten Überleben­den, die nie über diese Dinge hat spre­chen kön­nen.«

Nur ein einziges Mal versuchte Freek, mit seinem Vater über die Vergangenheit zu reden. »Das war 1970, als ich von meiner erste Rundreise durch Europa zurückgekehrt war. Ich war in Auschwitz gewe­sen und hatte in den Nieder­landen unter ande­rem mit einer Tante meiner Mutter über den Krieg geredet. Damals hatte ich meinem Vater den Wein­reb-Bericht mitgebracht.«

In den 70er Jahren war in den Nieder­landen gerade eine heftige Diskussion über Fried­rich Weinreb in Gang gekommen, in deren Mittel­punkt damals die Frage stand, ob er während der Besat­zungs­zeit tatsäch­lich bewußt Juden verraten hatte, nur um selbst einen persönlichen Vor­teil daraus zu ziehen, oder ob er vielmehr nach bestem Wissen und Gewissen versucht hatte, mithilfe seiner sogenann­ten Weinreb-Liste soviel Menschen wie möglich zu retten. In einem Versuch, diese öffentliche Kon­troverse zu beenden, veröffentlichte das RIOD (= Archiv für die Ge­schichte des Zwei­ten Weltkriegs in den Niederlanden; Rijksinstituut voor Oorlogs­documentatie) damals den sogenan­nten Weinreb-Bericht.

Freek: »Vorne in das Buch schrieb ich: Arbeit macht frei. Dies war für mich einerseits ein Sym­bol für das Böse an sich, weil ich bereits in Au­schwitz gewesen war. Andererseits aber war es auch eine Art Geheim­symbol – meine Generation verstand nämlich diese Aussage auch anders­herum: wir waren dazu gezwungen zu arbeiten, um über­leben zu können; uns an dieses Böse, das das Motto Arbeit macht frei repräsentierte, heran- und daraus herauszuarbeiten.«

»Mein Vater warf nur einen Blick auf das Buch und drehte sich daraufhin wortlos um. Doch wenn man es ein Leben lang gewöhnt ist, mit seinen Eltern nicht reden zu können, ist das nichts Beson­deres mehr. Zu der Zeit hatte ich außerdem bereits andere Mittel und Wege ge­fun­den, um über die für mich relevanten Dinge zu reden.«

 

»Als Kind saß ich immer in der Schulbi­bliothek, als ob ich dort wohnen würde. Dies war meine Reak­tion, um einer solchen Familie zu ent­fliehen.« Nachdem er volljährig wurde, begann Freek sein Medizinstudium. Er wurde Zahnarzt; ein einwand­freier bürgerli­cher, südafrikanischer Lebensent­wurf. »Mein Vater erwartete von uns, daß wir es zu etwas brachten. Das war seine Antwort auf den Krieg. Bei uns Kin­dern wurde nicht nach individu­ellen Bedürfnis­sen und Ver­anlagun­gen geschaut, sondern wir waren sozusagen die Verlängerung seines Ichs.«

Einfach wegzugehen und woanders ein neues Le­ben zu beginnen stand damals nicht auf der Tages­ord­nung. Freek: »Südafrika war meine ganze Welt. Dort war ich aufgewachsen, dort arbeitete und heiratete ich.« Erst später – nachdem er im Aus­land festgestellt hatte, daß seine Erzie­hung völlig cha­rakteris­tisch für die gesamte Zweite-Genera­tions-Problema­tik verlaufen war – merkte er, daß das Leben in Südafrika von Nachteil gewesen war. Seine Schwester und er (aber auch seine Eltern, wie ihm seitdem klar wurde) waren dort völlig isoliert inmit­ten einer Gesellschaft, die nichts darüber wußte bzw. auch nicht wissen wollte, was den Juden im Zweiten Weltkrieg an­getan worden war.

Freek: »Meiner Meinung nach hätten wir in Hol­land nicht jenes Gefühl erlebt, dermaßen ernsthaft – und zwar von allen Seiten – bedroht zu werden. Meine Eltern betrachteten unsere Familie wirklich als eine Art Festung, von der aus man sich gegen eine ausgesprochen feindlich ge­sinnte Umge­bung zu verteidigen hatte.«

»Dabei muß man berücksichtigen, daß meine Schwe­ster und ich in einer rassistischen, reaktionä­ren und gewalttätigen Gesellschaftsordnung auf­wuchsen. Die Apartheid war eine konkrete Aus­formung von Teilen der Nazi-Ideologie. In der Schule lernte ich schießen, und freitags mußten wir regelmäßig marschieren. Ich war sogar Mitglied bei den 'Voortrekkers', einer Jugendbewegung nach dem Vorbild der Hitlerjugend.«

Auch die Sprache spielte eine wichtige Rolle: zwar war Nieder­län­disch seine Mutterspra­che, doch nach kurzer Zeit sprach Freek in der Schule und mit Freunden nur noch Afrikaans. »Meine Eltern spra­chen Niederländisch und ich habe es ein wenig von ihnen gelernt, aber nicht so, daß ich mit ihnen richtig auf Nieder­ländisch über das, was mich be­schäftigte, hätte reden können. Diese Unfähigkeit, tatsächlich miteinander zu kommunizieren, war so ausgeprägt in unserer Familie, daß meine Schwe­ster und ich sie völlig verinnerlicht hatten. Ich fing als Kind an, kräftig zu stottern, und meine Schwe­ster hat auch heute noch einen Tic im Gesicht.«

 

Kurz nach seiner ersten Europareise kam für ihn der Zeitpunkt, das Schweigen zu beenden. Freek: »Ich konnte nicht mehr so weiterleben, ohne über die Geschehnisse der Vergangenheit reden zu können. Ich fand, daß ich mit meiner damaligen Tätig­keit nur meine Zeit vergeudete.« So gab er seinen Beruf auf und begann Philosophie und Soziologie zu studieren. »Damals dachte ich noch, daß es tatsächlich Antworten auf die Frage nach dem Wie und Warum der Shoah gab. Gleichzeitig spürte ich die Verpflichtung, mich am Kampf gegen die Apartheid zu beteiligen.«

Wenige Jahre nach dem Tod seines Vaters (1973) bekam er ein zweijähriges Stipendium des DAAD angeboten. »Ich dachte mir dazu: wenn man die Ursachen der Shoah verstehen will, muß man nach Deutschland, an die Frankfurter Schule. So verließ ich Südafrika.«

Auch der Kampf gegen die Apartheid war ein Grund, das Stipen­dium anzunehmen. »Ich hoffte, daß ich nach einem Aufenthalt in der Bundesre­publik eine Rolle als theoretischer Kopf innerhalb des ANC, der wichtig­sten Widerstands­organisation gegen das weiße Apartheidsregime in Süd­afrika, spielen könnte. Der ANC war damals mehr oder wenig marxistisch orientiert. Die Frankfurter Schu­le war mein Ideal, weil sie nicht nur im Rahmen der Aufarbeitung der Shoah wichtig war, sondern auch als führendes Zentrum eines neuen, intellektu­ell orientierten Marxismus.«

Sein Plan beruhte darauf, sich in der Bundesrepu­blik Deutschland genügend Kenntnisse anzueignen, um daraus Ideen für den Aufbau einer neuen Ge­sellschaftsordnung in einem freien Süd­afrika zu entwickeln. Dies war eine Vorstellung, die in marxistischen Studentenkreisen, und insbe­sondere in Gesprächen mit seinem Freund Richard Turner, entstanden war.

»Turner war Politologe und eine einfluß­reiche Figur innerhalb der 'National Union of South African Students', einer der wenigen Anti-Apart­heid-Orga­nisationen im Südafrika der 60er Jahre. Wir hatten damals beide gleichzeitig ein Stipendi­um für die Bundes­republik bekommen; Tur­ner für Heidel­berg, ich für Frankfurt. Ich war ihm schon vor­ausgereist. Während ich noch auf ihn wartete, erhielt ich eines Abends einen Anruf, daß er vom 'Special Branch', dem südafrikanischen Geheim­dienst, er­mordet worden war.«

Diese Schreckensmeldung traf Freek zutiefst. »Richards Tod war auch der Auslöser für meine Ehekrise. Schließlich fand ich nicht mehr die Kraft, allein nach Südafrika zurückzukehren und den Kampf allein – ohne Richard – aufzunehmen. So blieb ich in der Bundesrepublik.«

Seitdem er sich eingehend mit der Proble­matik der zweiten Genera­tion befaßt hat, kann Freek dieses »persönliche Ver­sagen« nun in einem ganz anderen Licht betrachten. »In einem Land wie Südafrika setzt man sich als politischer Aktivist akuter Le­bens­gefahr aus. Ich habe für mich die Erfahrung ge­macht, daß ich mit einer solchen Art von Be­dro­hung nicht umgehen kann. Kürzlich las ich, daß israelische Soldaten der zwei­ten Genera­tion – also Menschen wie ich, wobei ich zum Teil zur ersten, zum Teil zur zweiten Generation zähle – ganz genauso reagieren. Wenn sie in einer kon­kreten Kriegssituation ernsthaft bedroht werden, brechen sie zusammen. Seitdem ich dies weiß, fühle ich mich schon etwas weniger schuldig.«

In Frankfurt zu bleiben fiel Freek im Lauf der Jahre immer schwe­rer. »Mein Wegzug nach Deutschland war in gewisser Hin­sicht auch eine Rebellion gegen meinen Vater. Er reagierte auf alles, was mit Deutschland zusammen­hing, wie ein Stier auf ein rotes Tuch. Natürlich ging ich gerade deswegen nach Deutsch­land. Erst jetzt wird mir bewußt, daß ein solches jugendliche Auflehnen nicht genügend emotionale Moti­vation enthält, um zwanzig Jahre hier zu bleiben.«

»Es hält mich hier nur noch wenig: ich habe ge­lernt, was ich lernen wollte, ich habe mich jahre­lang mit Adorno und Horkheimer beschäftigt. Nun kann ich alles auf einmal in mein Auto laden und wegfahren. Auch Deutsch möchte ich nicht mehr sprechen. Es ist wie mit dem Afrikaans; es ist eine Sprache, die man ver­steht, aber auch eine Sprache der Rassisten. Ich stoße hier in Deutschland auf Wörter wie 'Volk', 'Einsatz', 'Sonderbe­handlung', die allesamt dem Nazi-Voka­bular ent­stam­men. Ich würde nun gern meine Niederländischkenntnisse ver­tiefen und zu meinen Wurzeln zurückkehren.«

Zurückblickend wird ihm bewußt, daß seine Ab­kehr von Deutschland eigentlich schon immer unterschwellig vorhanden war. »Obwohl ich hier nun schon fünfzehn, sechzehn Jahre lang lebe, habe ich mir dies eigent­lich vorher noch nie einge­stan­den. Vielleicht ist das ziemlich schizophren: ich spreche deutsch, ich denke auf deutsch, ich lehre auf deutsch, doch emotional verhalte ich mich so, als ob dies alles gar nichts mit mir zu tun hätte. Dabei ist es einer der wichtig­sten Gründe gewesen, weshalb ich nicht wollte, daß meine Tochter in der Bundesrepublik auf­wächst. Ich wollte nicht, daß sie eine Deutsche würde. Sie lebt zur Zeit bei ihrer Mutter in London.«

 

Der emotionalen Distanz zu Deutschland wurde Freek sich erst in den vergangenen Jahren bewußt, und zwar in dem Maße, wie er sich auf die Proble­matik der zweiten Generation einließ. Dieses Inter­esse wurde eigentlich erst durch einen Zufall ge­weckt: durch einen Museumsbesuch.

1990 besuchte Freek die Anne Frank-Ausstellung in Frankfurt am Main. »Am Ende der Ausstellung hing eine Namensliste aus Westerbork. Oben stand die Familie Frank, unten der Name meines Groß­va­ters. Für den Transport von Westerbork nach Au­schwitz. Als ich das sah, brach ich zu­sammen.«

Er kann es sich immer noch nicht erklä­ren. »Ich wußte gut über die Vergangenheit Be­scheid, war selbst in Auschwitz gewesen, in We­ster­bork sogar mehrmals; und jahrelang hatte ich mich als Wis­sen­schaftler mit der Shoah ausein­andergesetzt. Doch offen­sichtlich hatte ich meine eigenen Gefüh­le dazu gerade auf diese Weise nicht hochkommen lassen.«

Freek beschloß – oder eher noch, mußte sich ein­gestehen –, daß er sich seiner eigenen Vergan­genheit stellen müsse. Zusammen mit seiner Toch­ter fuhr er in die Niederlande, ging nach Den Helder und zum Anne Frank-Haus. Über Cor Suijk von der Anne Frank-Stiftung lernte er dar­aufhin den liberalen Rabbiner Awraham Soetendorf aus Den Haag kennen.

»Es war sehr bewegend. Ich war noch nie in Den Haag gewesen und hatte Soetendorp auch noch nie vorher getroffen, aber in gewisser Weise reagierte er völlig vertraut. Er sagte gerade nicht so etwas wie: 'du bist krank, du brauchst Hilfe' oder 'ich hab' da eine sehr komplexe Theorie über die mo­derne Gesellschaft anzubieten', sondern reagier­te auf genau die gleiche hilflose Art auf den Tod dieser Millionen von Men­schen wie ich. Er sagte schlichtweg: 'Ich habe dafür keine Erklärun­gen, sie wurden ermordet und ich weiß nicht, warum, und ich komme genau­so wenig darüber hinweg wie du.' Dies war das erste Mal in meinem Leben, daß jemand wie er in einer gewissen Autori­tätsposition bereit war zu­zugeben, daß niemand klare, schlüssi­ge Erklä­rungen dafür hat.«

In der niederländischen jüdischen Gemein­schaft fühlt sich Freek zum ersten Mal zu Hause. »Dort fand ich endlich dieses Gefühl von Wärme, dort gab es Menschen, die mir sagten: danke, daß du gekommen bist, wir brauchen dich. Und was kön­nen wir tun, um dir zu helfen?«

Er idealisiert die Niederlande, und zwar beträcht­lich. »Ich bin von diesem Land fasziniert; schließ­lich liegen meine Wurzeln hier im niederlän­dischen Judentum. Und das hängt auch wiederum mit der Sprache zusam­men. Im vergangenen Sommer war ich in Utrecht und hörte auf der Straße im Vor­beigehen das Wörtchen 'hutspot' (= Eintopfgericht aus gestampften Kartof­feln, Zwie­beln und Möh­ren); einen Begriff, den ich seit meinem fünften Lebensjahr nicht mehr gehört hatte. Mit einem Mal begann ich auf der Straße zu weinen wie ein Kind.«

Was Freek betrifft, hat er mit Frankfurt abge­schlossen. Nicht nur, weil er es als Vertreter der ersten bzw. zweiten Generation nicht mehr ertra­gen kann, im Land der Täter zu leben. Stärker noch spielt für ihn eine Rolle, daß er das Gefühl hat, von der Vergangenheit eingeholt zu werden.

»Ich glaube, daß die Dinge, die ich als vergangenes Geschehen zu erforschen suchte, momentan erneut in den Vordergrund rücken. Die rechtsextreme Gewalt in der Bundesrepublik nimmt immer mehr zu und die Gesellschaft radikalisiert sich. Es gibt hier in Frankfurt an der Johann Wolfgang Goethe-Universität, zu der schließlich auch die Frankfurter Schule gehört, sogar einen Professor namens Ball­reich, der steif und fest behaup­tet, daß das Reden über Gaskammern und Massenmorde ameri­kani­sche Propaganda sei. Zur Zeit findet ein Diszipli­narverfahren gegen ihn statt und er wurde aufge­fordert, seine Aussagen zu widerrufen. Doch vor­läufig ist das alles, was gegen ihn unter­nommen wird.«

»Ich fühle mich durch so etwas sehr bedroht und empfinde es wirklich so, als würde man mir den Boden unter den Füßen wegziehen. Als ich hierhin kam, hielt ich die Bundesrepublik für einen demo­krati­schen Staat mit liberalen Intel­lektuellen. In­zwischen ist mir klar, daß sie bereits von Anfang an gar nicht so liberal war, ganz im Gegenteil, daß es schon kurz nach Kriegsende eine starke rechts­orientierte politische Strö­mung gab, die sich in­zwischen ihren Weg bis in die Univer­sitäten ge­bahnt hat.«

»Ich habe mich immer als Außenseiter empfunden und mit diesem Gefühl bisher immer produktiv umgehen können. Doch nun habe ich – als Aus­länder und Jude in Frankfurt – nicht mehr die emotionale Kraft, um so weiterzuarbeiten, wie ich arbeiten will. Ich schaffe es nicht mehr. Ich habe das Gefühl, daß ich auf eine Art und Weise unter­miniert werde, die ich vorher nie für möglich gehalten hätte.«

 

Solange er noch nicht in die Niederlande zurück­kehren kann – denn so empfindet er es –, versucht Freek van Gelder, wenigstens denje­nigen Men­schen nützlich zu sein, die ihm bei der Verarbeitung seines Leides geholfen haben. »Wenn mich mal etwas sehr bedrückt, versuche ich im­mer, damit auf rationale Weise fertigzuwerden. Ich würde in­zwischen gern ein Buch über all diese Dinge schreiben; darüber, was es heißt, als Jude in dieser Welt zu leben und mit der Vergangenheit kämpfen zu müs­sen.«

Doch es soll kein Geschichtsbuch werden. »Es soll die moralische Entrüstung über das Ge­schehene und die Negation dieses Gefühls durch die Umge­bung thematisieren. Und es soll sich mit Freud und den Psycho­analytikern befassen.«

Vor allem aus eigener Erfahrung weiß er, daß die psychoanalyti­sche Fachwelt – und gerade in Deutschland – bei ihrer Behandlung der Pro­blema­tik der zweiten Generation auch fünfzig Jahre nach Kriegsende mehrheitlich noch immer versagt. »Die Welt muß endlich begreifen, daß wir, die Über­lebenden, nicht verrückt sind, sondern zutiefst verwundet, verletzt. Psychiater stellen für uns oft gerade die Verkörperung einer Gesellschaft dar, die uns vermittelt: 'irgendetwas stimmt mit euch nicht, nennt uns eure Beschwerden!' Doch die Opfer sind nicht krank, sie leiden nur an ihrer eigenen moralischen Empörung. Wenn je­mand sagt: 'ich teile eure Empörung nicht', dann ist dies eine Mißach­tung all jener Menschen, die ermordet wurden. Die Psychologen, die so reagie­ren, wer­den aus der Sicht der Überlebenden damit selbst zum Bestandteil des gesam­ten Problems.«

Die wichtigste Hilfe für die Überlebenden und ihre Nachkommen stellt darum Solidarität dar; eine Schlußfolgerung, die in den Niederlanden seit der Einführung des WUV (Gesetz zur Unterstüt­zung von Kriegs­opfern) 1973 bis vor kurzem selbst­ver­ständlich war. Eine Freek zufolge in ganz Europa einmalige Gesetzes­regelung. Die beschlos­sene Nichtanwendung des WUV auf die zweite Genera­tion hält er folglich auch für eine Tragö­die.

»Das WUV war für die Überlebenden viel wichti­ger als zehn psycho­analytische Kongresse zusam­men, gerade weil dieses Gesetz den kon­kreten Ausdruck der Solidarität darstellte. Seine Bedeu­tung reicht weit über das Geld hinaus, das eben­falls vom WUV zuerkannt wurde: das Geld ist dabei nur das Sym­bol, mit dem vermittelt wird: 'euer Gefühl, daß euch Unrecht angetan worden ist, ist richtig, und wir als Gesellschaft akzeptieren dies. Wir können die Toten nicht mehr zum Leben erwecken, aber wir können euch sehr wohl sagen: ihr seid nicht verrückt, Eure moralische Empörung ist berechtigt, sie ist die objektive Situation ange­messen, sie soll nicht folgenlos bleiben.' Und genau dies ist etwas, was Psychologen nicht kön­nen.«

 

[Dies ist der vierte Teil einer Serie über jüdisches Leben und das Leben von Juden in Frankfurt. Teilen 1, 2, und 3 sind am 18. und 25. Februar und am 11. März erschienen.]