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Erinnerung und Trauma –
Überlegungen zum Umgang der Psychiatrie und Psychoanalyse mit Überlebenden der Shoah[1]

Frederik van Gelder

 

Meine Damen und Herren,

wir beginnen, wie es sich gehört, mit einer Geschichte. Ich nenne sie ‚die Geschichtes von Herrn S.‘ Sie ist kurz, telegrammartig, gedrängt, von der Sorte, die in der Medizin ‚Anamnese‘ genannt wird, und sie faßt in wenigen Worten ein ganzes Menschenleben zusammen:

1. Die Geschichte von Herrn S.

„Herr Gerhard S. aus Krakau wurde mit seiner Familie bis 1943 im dortigen Ghetto und dann im Konzentrationslager gefangengehalten. Die Familie bestand aus ihm, seiner Frau, dem Sohn B. und der Tochter A. Der Sohn ist etwa 1924, die Tochter 1928 geboren. Der Sohn fiel einem Unfall zum Opfer, der natürlich auch mit den damaligen Bedingungen zusammenhing. Die Mutter wurde im Lager ermordet. Die damals 15-jährige Tochter fiel den Mördern zu Füßen und bat, ihre Schuhe küssend, um das Leben der Mutter. A. wurde mit Hieben und Fußtritten abgewiesen und mußte die Ermordung mitansehen.
Einige Zeit danach konnten Herr S. und seine Tochter mit gefälschten Papieren fliehen. Nach jahrelangen zermürbenden Abenteuern gelangten die beiden schließlich nach England. Seit dem Mord an der Mutter war die Tochter verstört, und in London brachte sie Herr S. bereits zu Ärzten, deren Namen zwar hier bei Behörden angegeben sind, an die er sich jedoch im Augenblick (er ist jetzt 73 Jahre alt) nicht mehr erinnern kann. Auf vielen Umwegen gelangten die beiden über Israel im Jahre 1953 nach Deutschland. Auf dem Weg von Israel war der Zustand der Tochter bereits so bedenklich, daß sie vom Schiff aus ins Wasser sprang. Sie ist gerettet worden, aber in Deutschland ist die Schizophrenie voll in Erscheinung getreten.
Jetzt lebt Herr S. mit einer kärglichen Rente in einem kleinen Zimmer in der Nähe des jüdischen Altersheims hier in Frankfurt, und die Tochter befindet sich etwa seit der Ankunft in der Landesheilanstalt Herborn. Die Hauptsymptome ihrer Krankheit bestehen in fortwährendem Herumlaufen, weitgehender Ablehnung von Nahrung und Angstvorstellungen. Herr S. möchte sie zu sich nehmen, und die Anstalt würde sie, auf seine Verantwortung hin, ihm auch übergeben, aber die magere Rente gestattet es nicht. Seit mehreren Jahren ziehen sich Prozesse hin, in denen Herr S. darum kämpft, daß seine Tochter, die sich unendlich danach sehnt, mit ihm oder wenigstens mit anderen freundlichen Menschen zusammen zu sein, als ein Fall der Wiedergutmachung anerkannt wird.“[2]

Die Geschichte geht schlecht aus. Nach jahrelangem Gerichtsprozeß wurde die Klage von S. gegen das Land Rheinland-Pfalz in zweiter Instanz abgewiesen. „Auf Initiative von Max Horkheimer beim Ministerpräsidenten von Rheinland-Pfalz wurde daraufhin als Härteausgleich eine monatliche Rente von DM 250,- bewilligt. Diese Rente wurde dann zuletzt vom Landeswohlfahrtsverband Hessen als Kostenbeitrag für die psychiatrische Unterbringung vereinnahmt.“[3]

Geschichten wie diese waren (und sind weiterhin) keine Seltenheit. Der Berliner Arzt und Therapeut Christian Pross schildert in seiner sorgfältigen und lehrreichen Dokumentation der sog. ‚Wiedergutmachung‘ in der Bundesrepublik Deutschland nach dem Krieg viele vergleichbare Fälle, und deckt die historischen Hintergründe auf, die zu dem führen konnten, was er den „Kleinkrieg gegen die Opfer“ nennt.

Ich zitiere aus dem Vorwort zu seinem Buch, geschrieben von dem vieljährigen Vertrauensarzt des Generalkonsulats der Bundesrepublik in New York, William G. Niederland:

„In den gutachterlichen Beurteilungen vieler sog. deutscher Sachverständiger, Amtsärzte und Medizinaldezernenten ... kommt den ärztlich feststellbaren Befunden ‚keine Überzeugungskraft‘ zu, und falls die schwerwiegenden Gesundheitsschäden sich vorwiegend im seelisch-nervösen Bereich befinden, fehlt ihnen ‚die organische Würde‘, wie in einem deutschen Gegengutachten wörtlich geschrieben steht. Tatsächlich lesen sich manche gutachterlichen Urteile solcher ‚Sachverständigen‘ wie Schreibübungen ehemaliger KZ-Wächter, und nicht wenige von ihnen waren höchstwahrscheinlich einst Nazis oder sind es im Innern noch immer. ... Auch in den Wiedergutmachungsverfahren und noch heute befinden sich die von tiefem Leid und innerem Leiden so hart Betroffenen auf der Opferseite. Für ihr Leid und Leiden nach dem Überleben im KZ oder im verborgenen Keller eines polnischen Bauernhauses haben die von Pross und mir genannten sog. Sachverständigen kein Verständnis, des öfteren allerdings Hohn und Spott. Daß die Überlebenden – den Tod der eigenen Eltern, den Verfolgungstod ihrer Kinder, der Geschwister, fast aller Freunde und nahen Menschen ständig im Bewußtsein, nach dem Verlust ihrer sozialen und wirtschaftlichen Position, ihrer ehemaligen Wirkungsstätte und ihres damit verbundenen inneren Seins –, daß sie leiden, zumeist ein ganzes Leben lang, ist jenen ‚Sachverständigen‘ nicht beizubringen. Daß die Schrecken der Lager lebenslang nachwirken, bestreiten sie.“[4]

Zurück zu der Geschichte von Herrn S. und seine Tochter. Sie entstammt, das soll nun ergänzt werden, einem Briefwechsel zwischen Max Horkheimer und dem bekannten deutsch-amerikanischen Psychologen Bruno Bettelheim aus dem Jahre 1958. Sie hat einen konkreten Anlaß: Horkheimer bittet den angesehenen Psychologen um ein Gutachten. „Es kommt darauf an, darzutun, daß nach Ansicht namhafter amerikanischer Psychiater eine exogene Verursachung der Schizophrenie durchaus im Bereich der Möglichkeit liegt.“[5] Horkheimer fährt fort:

„Das Gericht, das im Grunde wohlwollend ist, würde die Grundlage dafür [Wiedergutmachungsrente] als gegeben ansehen, wenn A.s Geisteskrankheit mit den Ereignissen im Konzentrationslager in Verbindung gebracht werden könnte. Ja selbst, wenn anerkannt werden könnte, daß diese Ereignisse auch nur in irgendeiner Weise für den Zeitpunkt des vollen Ausbruchs der Krankheit im Jahre 1952 bedeutungsvoll waren. ... Daß dem Gericht die Möglichkeit fehlt, ein günstiges Urteil zu sprechen, liegt einzig an dem Verhalten der medizinischen Gutachter. ... Beide [Gutachter] haben sich auf Grund der Theorie von der endogenen Entstehung der Schizophrenie gegen eine Verbindung der Krankheit mit den Ereignissen erklärt ...“[6]

Die Theorie von der endogenen Entstehung von Geisteskrankheiten – die in dem von Herrn S. angestrengten Prozeß dazu bemüht wird, einem 75-jährigen KZ-Überlebenden eine letzte (und wohl endgültige) Demütigung zuzufügen (er stirbt wenig später) – galt in den fünfziger und sechziger Jahren als unanfechtbarer Grundsatz der wissenschaftlichen Medizin schlechthin. Wer daran rührte, rührte an der herrschenden medizinischen Lehrmeinung in der Bundesrepublik.

Dazu einige Bemerkungen.

„In Deutschland galt seit einer Grundsatzentscheidung des Reichsversicherungsamtes über die ‚medizinische und rechtliche Bedeutung von traumatischen Neurosen‘ von 1926, daß eine Neurose als Unfallfolge nicht rentenpflichtig sei, da die Ausgleichsfähigkeit des Organismus nach psychischen Belastungen praktisch unbegrenzt und eine dauerhafte Erwerbsminderung durch eine Unfallneurose nicht möglich sei. Diese Entscheidung ging unter anderem auf Arbeiten von Karl Bonhoeffer und auf eine Monographie von Ewald Stier über Unfallneurosen zurück. Beide hatten sich mit der Begutachtung der sogenannten Kriegszitterer des Ersten Weltkriegs befaßt und kamen zu dem Schluß, daß deren abnorme seelische Reaktionen auf die Kriegsereignisse Ausdruck von ‚Begehrensvorstellungen mit dem Ziel einer Rente‘ waren, und daß man mit der Gewährung einer Rente die Neurose nur perpetuiere. Die Therapie dieser ‚Rentenneurose‘ bestand daher in der Nichtgewährung der Rente. Diese Entscheidung ist von einigen Einschränkungen abgesehen bis heute gültig.“[7]

„Friedrich Panse, Direktor der Psychiatrischen Klinik Düsseldorf, der Kieler Ordinarius Gustav Störring und andere hielten ... in einem für das Bundesarbeitsministerium erstellten Grundsatzgutachten über die sozial- und versorgungsmedizinische Beurteilung der Neurose auch noch 1960 an der These fest, daß neurotische Reaktionen auf kriegseigentümliche Verhältnisse ‚Wunsch- und Zweckreaktionen‘ seien, ‚die nicht als Schädigungsfolge ... angesehen werden können‘.“[8]

Damit soll nicht behauptet werden, dass diese Sichtweisen nicht auch in Frage gestellt wurden – doch wurden die Kritiker lange Zeit übergangen. All das, was im nachhinein als „Konzentrationslagersyndrom“, „Psychotrauma“ oder „Extremtraumatisierung“ bezeichnet wurde, wurde dokumentarisch festgehalten, sobald die Nachkriegsbedingungen solche Veröffentlichungen ermöglichten – und zwar häufig von Psychiatern und Psychoanalytikern, die selbst die Konzentrationslager überlebt hatten, wie etwa Tas (1946), De Wind (1981) und Elie Cohen in Holland, sogar 1943 schon Bruno Bettelheim, noch während des Krieges, nachdem er aus Dachau freikam, Eitinger in Norwegen, Targowla (1950) und Minkowski (1946) in Frankreich. Nach den ersten großen internationalen Kongressen hierzu in Paris und Kopenhagen im Jahre 1954, widmeten sich Konferenzen in nahezu jährlichen Abständen dieser Thematik.[9]

Die Spaltung in den jeweiligen psychiatrischen Grundüberzeugungen innerhalb und außerhalb der früheren BRD war ganz auffallend und ging fraglos auf eine unterschiedliche persönliche und berufliche Sozialisation zurück. Viele der deutschen Psychiater, und keineswegs nur die Hardliner, hatten ihre einschlägigen Erfahrungen in der Wehrmacht gemacht.

Dazu ein Zitat von Lutz Rosenkötter:

„Im ersten Jahr des Zweiten Weltkrieges traten funktionelle Magen-Darm-Störungen und -Ulcera in so großer Zahl auf, daß ein ‚Magen-Neurotiker-Kreislauf‘ entwickelt wurde, das heißt, in Schleusenabteilungen wurden durch Gastroskopien die Kranken mit Geschwüren von den psychosomatisch Gestörten getrennt. Die ersten wurden in Lazaretten behandelt, die letzteren in Strafeinheiten geschickt. ... die maßgebenden Psychiater im Nachkriegsdeutschland wie u.a. v. Baeyer und Bürger-Prinz waren beratende Wehrmachtspsychiater gewesen...
Am 31.7.1942 wurden psychogene Reaktionen im Heeressanitätswesen unter Meldepflicht gestellt. Ende August 1942 wurde in einem Erlaß die Behandlung solcher Kranker geregelt. Ähnlich dem Magen-Darm-Kreislauf wurde ein ‚Neurotiker-Psychopathen-Kreislauf‘, kurz ‚NP-Kreislauf‘, eingerichtet. Die Kriegsneurotiker, die den milden Formen der Beeinflussung unzugänglich blieben, kamen in Nervenabteilungen der Kriegslazarette oder andere Spezialabteilungen. Blieb dies auch erfolglos, so drohten Strafformationen oder Konzentrationslager.“

In diesen Zusammenhang gehört auch das interessante Verb ‚pansen‘, das auf den bereits erwähnten Neurologen Friedrich Panse zurückgeht, der eine so schmerzhafte Form der Elektroschocktherapie entwickelt hat, genannt die „energische Suggestivbehandlung von Kriegsneurotikern mit stärkeren galvanischen Strömen“, daß der ‚Patient‘ doch lieber an die Front versetzt werden wollte als auf diese Weise ‚kuriert‘ zu werden.

Rosenkötter weiter:

... „...eine Form von ‚Gesprächstherapie‘ [wurde] erfunden, in der der Patient darüber ‚aufgeklärt‘ wurde, entweder liege eine ‚eigenartige nervliche Reaktion‘ vor, die sich in kürzester Zeit abbauen werde, oder er sei ‚schlechtwillig‘ mit den zu erwartenden strafrechtlichen Folgen oder er sei geisteskrank und müsse in dauernde Anstaltsverwahrung. In den beiden letzten Fällen drohte letztlich die Hinrichtung.“

Dies veranschaulicht vielleicht etwas, weshalb der berufliche Austausch mit Fachkollegen im Ausland zunächst nur schleppend vor sich ging. Aber nicht nur außerhalb Deutschlands:

„Ein Fall, der Geschichte machte, war der Fall eines schwer depressiven Verfolgten, den Venzlaff im Auftrag des Landgerichts Bremen im Jahr 1952 begutachtete. Venzlaff, damals noch Assistenzarzt an der Universitätsnervenklinik in Göttingen, attestierte eine verfolgungsbedingte Neurose. Das Entschädigungsamt geriet in Aufruhr, ein von ihm beauftragter Gerichtspsychiater schrieb in einer Stellungnahme, sollte dieses Gutachten Schule machen, würde eine Lawine an Rentenansprüchen auf die Behörden zukommen, dem müsse unbedingt Einhalt geboten werden. Das Amt bemühte daraufhin den einflußreichen Psychiater Ernst Kretschmer, damals führende deutsche Kapazität auf dem Gebiet der Neuroseforschung, zu einem Gegengutachten. Kretschmer, der den Patienten nie gesehen und untersucht hatte, begründete in seitenlangen theoretischen Ausführungen, daß nicht sein könne, was nicht sein darf, daß es eine verfolgungsbedingte Neurose nicht geben könne, da die Ausgleichsfähigkeit des Organismus bei schweren psychischen Traumen unbegrenzt sei. Das Gericht sorgte für eine Sensation, es gab dem Assistenzarzt Venzlaff recht und wies des Professors Gutachten als nicht überzeugend zurück. Entgegen der allgemeinen Rechtsauffassung, daß nur ein gerichtlich sanktioniertes Gutachten als rechtsbindend und musterhaft gilt, verschickte das Amt jedoch das Kretschmersche Gutachten als Mustergutachten in hektographierter Form an alle Behörden. Seitdem geistert es durch die Literatur als das Kretschmersche Grundsatzgutachten vom 24.10.1955. Besonderes Gewicht erhielten die Auffassungen Kretschmers dadurch, daß sie Eingang fanden in den Kommentar von Ammermüller-Wilden, Gesundheitliche Schäden in der Wiedergutmachung. Dieser Kommentar, in dem eine Rentengewährung bei Neurosen für ‚wissenschaftlich unhaltbar‘ erklärt wurde, bestimmte die Rechtsprechung in den fünfziger Jahren. In den Merkblättern, die die Ämter an die Gutachter im In- und Ausland verschickten, wurden bezüglich der Neurosefrage die entsprechenden Passagen aus Ammermüller-Wilden zitiert.“ (Pross: S. 155/156)

Die Wiedergutmachungsgutachter also – wie leidenschaftlich sie auch immer noch Positionen verteidigten, die seit dem Ersten Weltkrieg unverändert geblieben waren – befanden sich schließlich in den sechziger und siebziger Jahren – zumindest, was ihre „Theorie“ betraf – in der Minderheit. (Was allerdings wenig Auswirkungen auf die Art und Weise hatte, in der das Bundesentschädigungsgesetz bei den Gerichten angewendet wurde – nach den Berechnungen von Pross wurden mehr als die Hälfte der Antragsteller abgewiesen.) Dennoch, die Existenz eines „Traumas“, in dem Sinne, wie der Begriff heute benutzt wird, konnte nicht länger geleugnet werden, nicht einmal von den organisch argumentierenden Hardlinern. International hat sich eine andere Auffassung durchgesetzt. Dazu zitiere ich eine Definition aus William Niederland, die in den sechziger und siebziger Jahren einem breiten Konsens entsprach:

Was ist ein ‚Trauma‘?

  1. Leben in einer Atmosphäre der ständigen Bedrohung und eines anfänglich unverstandenen, namenlosen, dann immer näherrückenden Verhängnisses;
  2. hiermit einhergehende leiblich-seelische Zermürbung des Personganzen,
  3. häufige akute Todesgefahr und Todesangst;
  4. Verunsicherung aller mitmenschlichen Bezüge und Kontakte;
  5. schutzloses Dasein in einem Dauerzustand völliger oder nahezu völliger Rechtlosigkeit;
  6. Überflutung des geistigen Ich-Gefüges durch den unaufhörlichen Ansturm von öffentlichen und persönlichen Beschimpfungen, Verdächtigungen, Verleumdungen und Anschuldigungen, wiederum ohne Möglichkeit einer Zufluchtnahme zum behördlichen Rechtsschutz. (1980).

(Niederlands Buch trug nicht von ungefähr den Untertitel „Seelenmord“.)

Aber auch in dieser Definition ist die typische Doppeldeutigkeit zwischen einerseits einer rein deskriptiven Auflistung von Symptomen und andererseits sehr vorsichtig formulierten Vorstellungen über die Ursache eines psychologisch-emotionalen Zusammenbruchs aufgrund von Verfolgung ersichtlich. Die Rede von der ‚Ursache‘ eines Traumas in diesem Zusammenhang ist genau genommen selbst schon verwirrend, denn was die organizistischen Psychiater von ihren Kritikern unterschied, war ja eigentlich nicht, dass sie mit dem Begriffspaar ‚Ursache‘ und ‚Wirkung‘ hantierten (hierbei bezogen sich ja beide Seiten auf die Autorität naturwissenschaftlichen Denkens), sondern das, was sie als Ursache anzunehmen bereit waren.

Angefangen bei Freuds und Breuers Studien über Hysterie bis zu den Traumadebatten der Gegenwart gibt es zwei nur schwer miteinander zu vereinbarende Positionen:

– entweder werden psychische Krankheiten in ihrer Kausalverknüpfung analysiert, d.h. subjektive Gefühle und Gemütsbewegungen werden in Wechselbeziehung zu den objektiven Tatsachen der Neurologie und Neurophysiologie gebracht, („Die Ursache Ihres Leidens ist Ihre Neurose/Psychose/Schizophrenie/erbliche Veranlagung“) oder

– sie werden nach der historisch-universalistischen Seite hin untersucht. Danach übersteht niemand Verfolgung und Folter unbeschadet, und wer ihr ausgesetzt war, hat das Recht, sich auf eine Solidaritätspflicht der Allgemeinheit zu berufen. Sie setzt also ein öffentliches, durch Gesetzgebung abgesichertes Recht auf Anerkennung für erlittenes Unrecht voraus. („Die Ursache Ihres Leidens ist der Krieg/das KZ“)

Aber kommen wir nun zu der veränderten Situation in den achtziger Jahren.

2. Zwischenbetrachtung: Die DSM

Die 1980 erfolgte Herausgabe des „Diagnostic and Statistical Manual“ (DSM) der American Psychiatric Association kodifizierte darin unter dem Oberbegriff des „Posttraumatic Stress Disorder“ (PTSD) etwas, was die psychiatrischen, psychoanalytischen und medizinischen Berufe in den Jahren nach 1945 zum ersten Mal in seinem ganzen Ausmaß wahrgenommen haben: Daß nämlich Krieg und Verfolgung – Jahre unter dem Schatten eines gewalttätigen Todes – längerfristige strukturelle Auswirkungen auf die Seele haben, was selbst jene Verfolgten in Mitleidenschaft gezogen hat, die die Jahre von 1933 bis 1945 ansonsten physisch unversehrt überstanden hatten.

Daß es immerhin ein halbes Menschenleben gedauert hat, bevor die diagnostischen, sich mit psychischem Leiden befassenden Kategorien in die medizinischen Handbücher aufgenommen wurden (zu spät allerdings für die Mehrzahl derjenigen, denen mit dieser Einsicht hätte geholfen werden können), war nicht nur eine Folge des politischen, wirtschaftlichen und sozialen Chaos des kriegsgeschüttelten Europa nach 1945; nicht nur eine Folge dessen, was im nachhinein eine „conspiracy of silence“ bezüglich des Leidens der Überlebenden genannt wurde (Grubrich-Simitis); und auch nicht nur die Folge von weitverbreiteten antisemitischen Einstellungen in den Behörden und Gerichten, die mit der Verwaltung und Ausführung der sogenannten Wiedergutmachungsgesetzgebung betraut waren. Die vielen internationalen Kongresse, die sich in den sechziger und siebziger Jahren mit den Überlebenden aus den Konzentrationslagern, Zwangsarbeitern, Kriegsgefangenen, ‚Displaced Persons‘, Flüchtlingen und Kriegswaisen befaßten, waren nicht nur eine Reaktion auf die manifesten und vielfältigen Krankheiten der Überlebenden, und auch nicht nur der Notwendigkeit geschuldet, Wiedergutmachungsansprüche der Betroffenen zu artikulieren, zu dokumentieren und gerichtlich durchzusetzen. Noch etwas anderes drückt sich in solchen Kongressen aus, nämlich eine Auflehnung innerhalb der medizinischen Disziplinen gegen die eigenen organizistischen und empiristischen Annahmen in Bezug auf das Funktionieren des menschlichen Geistes. Strenggenommen ist die Rede vom „menschlichen Geist“ nach den organmedizinischen Prinzipien aus dem 19. Jahrhundert selber gar nicht zulässig. „Geisteskrankheiten sind Gehirnkrankheiten“ lautete die psychiatrische Lehrmeinung des letzten Jahrhunderts. (Griesinger) Wissenschaftlich und medizinisch nachweisbar gebe es angeblich nur anatomische Strukturen und physiologische Prozesse.

Das erklärt, weshalb die „Psychiatrie der Verfolgten“ (von Baeyer, Häfner, Kisker) sich in den sechziger und siebziger Jahren in einer Gegenposition nicht nur zu den, die Wiedergutmachungsgesetzgebung restriktiv anwendenden BRD-Behörden befand, sondern auch zu den medizinischen Gutachtern, die sich auf die psychiatrischen Schulmeinungen des 19. Jahrhunderts beriefen, und damit den Gerichten überhaupt erst die Begründung für die Abweisung zahlloser Antragsteller lieferten. (Siehe oben, die Geschichte von Herrn S.) Diese Begründungen waren ja nichts anderes als die maßgebliche Schulmeinung innerhalb der Medizin selber: nämlich, daß eine Pathologie ohne eine organische Ursache nicht denkbar ist, und daß es keine Pathologie geben kann, die nicht entweder endogen (z.B. vererbt oder altersbedingt) oder exogen (z.B. traumatisch oder infektiös) ist. Daß etwas ‚rein Subjektives‘, bloß ‚in Gedanken‘ Stattfindendes, pathogen sein kann, oder gar jahrzehntelang latent bleiben kann, bevor es sich äußert, ist nach dieser Auffassung eine logische Unmöglichkeit.

Es bedurfte 30 Jahre internationaler Bemühungen, um zu beweisen, daß dieser Ausdruck eines medizinischen Empirismus nicht nur faktisch falsch war, sondern auch, um die besondere moralische Blindheit, die sich darin äußert, zum Gegenstand der Kritik zu machen. Kurt Eisslers bekannter Aufsatz von 1963, „Die Ermordung von wievielen seiner Kinder muß ein Mensch symptomfrei ertragen können, um eine normale Konstitution zu haben?“ (Psyche, Jg. 17), hat einiges dazu beigetragen, das Groteske am psychiatrischen Positivismus aufzuzeigen.

Die DSM-Kodifizierung von 1980 war teilweise eine Reaktion auf das Leiden der Opfer des Zweiten Weltkriegs, teilweise eine Reaktion auf die Erfahrungen mit Vietnamveteranen, und teilweise ein Versuch, diesen medizinischen Organizismus zu korrigieren. Obwohl das DSM sich ausschließlich auf eine deskriptive Auflistung klinischer Symptome als Folgen von Gewalt bezog – d.h. die typische psychiatrische Reduktion von subjektiven Erlebnissen auf neurophysiologische Prozesse nicht in Frage stellte – hat es doch als Realität anerkannt, daß Verfolgung und Gewalt unauslöschliche Spuren im Subjekt hinterlassen können; und daß archaische und überwältigende Angst so prägend sein kann, daß sie von Generation zu Generation übertragen wird. In mehreren Ländern haben diese Ergebnisse politische Folgen gehabt. Sie haben zu einer Gesetzgebung zum besonderen Schutz von verletzlichen Opfergruppen geführt, zur Gründung von Kliniken zur Behandlung von Folteropfern und traumatisierten politischen Flüchtlingen, sowie zur Herausbildung einer neuen Generation von Therapeuten, die ‚Traumatherapie‘ mit aktivem Engagement für die Durchsetzung von universellen Menschenrechten verbinden.

Verglichen mit der „perverted psychiatry“ (Eissler-Titel) der 50er Jahre, wie sie in der Bundesrepublik Deutschland – aber auch nicht nur dort – praktiziert wurde, war das DSM-Handbuch der 80er Jahre ein enormer Fortschritt. Die psychologisch-emotionalen Folgewirkungen von Verfolgung und Terror waren zur Tatsache geworden, öffentlich anerkannt, kodifiziert in den offiziellen diagnostischen Schemata der American Psychiatric Association. Es mag für manche Holocaust-Überlebende zu spät gekommen sein, – das ist ein Kapitel für sich – doch bildete es zumindest in ganz Europa und auf dem amerikanischen Kontinent die Grundlage für die Errichtung von Kliniken, in denen Folteropfer, Flüchtlinge und andere schutzlos ausgelieferte Gruppen, bei denen die Auswirkungen von Verfolgung und Gewalt nicht länger geleugnet werden konnten, behandelt werden.

Und dennoch: obwohl das DSM-Handbuch nichts mit der anschließend einsetzenden Banalisierung, der Vulgarisierung und der Kommerzialisierung in Bezug auf den Trauma-Begriff zu tun hat, war sein Eklektizismus eine stillschweigende Attacke auf die Grundprinzipien der Psychoanalyse – und von daher eine Zurückweisung der einzigen Fachdisziplin, die eine systematische Theorie der Arbeitsweisen der Psyche anzubieten hatte, abgesehen von viel Erfahrung in der Behandlung psychischen Leidens. Übertragung, Gegenübertragung, das geduldige „Durcharbeiten“ unbewusster Antriebskräfte, der Hintergrund von Primärprozessen, die zentrale Bedeutung von Sprache, Symbolik und freier Assoziation, das geduldige Enträtseln subjektiver Überzeugungen und individueller Lebensgeschichten; all dies wird einem organmedizinischen Empirismus geopfert, der die Psychologie weit hinter das zurückwirft, was die Psychoanalyse schon entdeckt hatte.

3. Die „Zweite Generation“

Schon in den sechziger Jahren wurde deutlich, daß Kinder, die im Versteck oder in den Konzentrationslager überlebten, („child survivors“) und Kinder von Überlebenden („second generation“) eine spezifische Gruppe mit einer ganz eigenen Problematik bilden. Wie die Sünden der Väter, so schien es, können die vom Krieg verursachten emotionalen Narben mitunter so tief reichen, daß sie von Generation zu Generation weitergegeben werden. Basierend auf den Arbeiten von Musaph, Keilson, De Levita in den Niederlanden, Krystal, Kestenberg, Niederland, Eissler, Dasberg, Laub, Kogan und anderen in den USA und Israel geht es inzwischen in der Fachliteratur nicht mehr um die Existenz von Psychotrauma und Posttraumatic Stress Disorder, sondern um die Mechanismen seiner „intergenerationellen Übertragung“, seine Epidemiologie, und die Spuren, die die Psychotraumen in den öffentlichen Diskursen sowie in der kulturellen Überlieferung hinterlassen haben.

Was ist es denn, das in den Überlebenden-Familien für die Kinder so prägend wirkt? Dazu David de Levita, Inhaber des 1992 gegründeten Lehrstuhls für „Generationsübergreifende Kriegsfolgen“ an der Katholischen Universität Nijmegen:

„Das Leiden derjenigen, die von dem, was ihre Eltern durchgemacht haben, belastet sind, ist noch nie so klar hervorgetreten. Überall auf der Welt wurde dies festgestellt, wobei es sich erwies, daß es nach Jahren der Latenz dennoch und unerwartet zum Ausbruch kommen kann, genauso wie es bei jenen der Fall ist, die den Krieg selbst mitgemacht haben. Es ist objektiv konstatierbar und mit den normalen psychiatrischen Methoden meßbar.“[10]

Das Ausmaß der Fachliteratur zu diesem Thema – aus vielen tausend Titeln bestehend[11] – ist schon ein Hinweis darauf, wie wesentlich das ist, was hier zum Vorschein kommt.

Darüber, was sich in diesen Familien abspielt, herrscht weitgehende Übereinstimmung: Überlebende als Eltern, die unauslöschliche Bilder von Angst und Erniedrigung mit sich trugen, die um die Ermordung ihrer Familien und Gemeinschaften wußten, die die Zerstörung alles Vertrauten (inklusive ihrer materiellen Existenzgrundlagen) ständig vor Augen hatten, hatten nach Kriegsende keine Wahl, als die dadurch erzeugten Gefühle zu verdrängen – um den Preis des nackten Überlebens.[12] Die Kinder aus dieser Zeit werden oft als „memorial candles“ oder als „Ersatzkinder“ bezeichnet, da sie für ihre Eltern eine Erinnerung an ermordete Familienangehörige verkörpern, nach denen sie sehr häufig auch benannt sind, und ein Ausdruck des elterlichen Bedürfnisses nach Halt, Hoffnung und Orientierung sind. Mit anderen Worten, diese Kinder wuchsen in einem familiären Umfeld auf, in dem nicht ihre eigenen Bedürfnissen nach Liebe und Geborgenheit Vorrang hatten, sondern die der Eltern.

„Bekannt ist die Tragödie von Menschen, die Kinder bekommen, weil sie nicht lieben können und glauben, daß das Kind diesen Mangel ausgleichen könne. Das wird meistens eine Katastrophe, denn Kinder geben keine Liebe, sie geben höchstens Liebe zurück.“[13]

Kinder aus einer solchen Umgebung sind schon in jungem Alter mit schweren Bürden belastet. Der Krieg ist eine allgegenwärtige und stille Drohung, ein undurchschaubares Familiengeheimnis, um das das Kind Phantasien spinnt, die um so bedrückender sind, je weniger sie ausgesprochen werden können.

„Oft können Kinder von Überlebenden nicht angeben, wann sie zum ersten Mal etwas über den Holocaust erfahren haben, weil sie sich gar keine Zeit vorstellen können, daß sie sich der Geschichte ihrer Eltern nicht bewußt gewesen wären. Das Wissen über den Holocaust ist für sie oft ein integraler, nicht hinterfragter Bestandteil der eigenen Identität, etwas stets Gegenwärtiges, der Hintergrund gewissermaßen, vor dem jede andere Erfahrung wahrgenommen wird. Eltern/Überlebende unterscheiden sich stark in ihrer Bereitschaft, über diese Erfahrungen zu sprechen. Aber auch wenn offene Gespräche darüber verboten oder verpönt waren, haben die Kinder in irgendeiner Form ein mentales Abbild des Holocaust erworben...“

schreibt Anne Adelman, vom Yale Child Study Center, New Haven, in einer Studie über das Verhältnis von Mädchen zu ihren Müttern, die Holocaust-Überlebende sind.[14]

Oder die Kinder werden schon in frühem Alter zu Vertrauten ihrer Eltern, deren eigenes Mitteilungsbedürfnis so überwältigend ist, daß sie nicht imstande sind, ihren noch viel zu jungen Kindern viel zu realistische Schilderungen von Grausamkeiten zu ersparen – eine Rollenumkehrung zwischen Eltern und Kindern, die in der Fachliteratur „Parentification“ heißt.

Die Identifikation des Kindes mit der Erfahrungswelt der Eltern kann so vollständig werden, daß es scheint, als wären sie selber die Verfolgten und Erniedrigten – eine quasi-symbiotische Verschmelzung von Ichgrenzen zwischen Kind und Elternteil, die „Konkretismus“ oder „telescoping“ zwischen den Generationen genannt wird.

Die Pubertät, ein Lebensabschnitt, in dem Individuierung und Loslösung vom Elternhaus im Zentrum stehen, bedeutet in vielen dieser Familien – charakterisiert, wie sie sind, durch emotionale Bindungen von hoher Intensität und Ambivalenz – eine außerordentliche Zerreißprobe. Sie kann sowohl zu einer lebenslangen emotionalen Abhängigkeit von den Eltern führen, als auch zum Gegenteil: zu einer endgültigen Entfremdung und Trennung. An dem, was ‚Affect dysregulation‘ genannt wird – Zorn, Depressionen, heftige Stimmungsschwankungen, tief empfundene Minderwertigkeitsgefühle (wiederum durch Allmachtsphantasien und narzißtische Rückzüge kompensiert) – können solche Familien zerbrechen. Familien, die sich wiederum von ihrem sozialen Umfeld häufig so zurückgezogen haben, daß der Gedanke, Hilfe von außerhalb in Anspruch zu nehmen, gar nicht erst aufkommt. „Überlebende des Holocaust sind vielfältig Verlassene und Entwurzelte. Familien sind für sie Zuflucht in einer feindlichen Welt.“[15]

Ein Zitat, das ich auf dem Kongress „Children War and Violence“ notiert habe:

„Der Überlebende erinnert den angeblich psychisch ‚Gesunden‘ (einschließlich des Psychoanalytikers) an seine bzw. ihre eigene Sterblichkeit, an die Unsicherheit der menschlichen Existenz, an das Schmachvolle und Barbarische, womit unzähligen Millionen Unschuldigen innerhalb der vergangenen sechzig Jahre ums Leben gekommen sind. Dieses Memento mori ist unerträglich, seine Unterdrückung eine zentrale Funktion all dessen, was zeitgenössische Kultur ausmacht, seine Präsenz in der Gesellschaft, die sich selbst postmodern nennt, ist allgegenwärtig. Daher sind die Opfer ‚sequentiell‘ traumatisiert (und zwar auf eine andere Weise, als Hans Keilson dies meinte); sie werden erneut geächtet und zurückgewiesen: nur diesmal nicht im Namen des rassistischen Wahns der Nazis, sondern der wohlklingenden Terminologie der offiziellen Psychiatrie. Statt Verständnis und Unterstützung zu erhalten, wonach sich diejenigen am meisten sehnen, die durch eine Hölle gegangen sind, die noch jenseits der Vorstellungswelt eines Dante oder eines Hieronymus Bosch lag, wird ihnen noch eine letzte, endgültige Kränkung zugefügt: Mit der vollen Autorität der modernen wissenschaftlichen Medizin im Rücken gibt man ihnen zu verstehen, dass sie nicht ganz richtig im Kopf seien. Dabei führt bereits der Mangel an Verständnis und Solidarität bei vielen von ihnen mit unfehlbarer Regelmäßigkeit zu Selbsttötungen. (Hierbei sei nur an Primo Levi und Jean Améry erinnert.) Die Überlebenden, die die eigentlichen Zeugen der Pathologie der modernen Gesellschaft sind, deren Zeugnis uns endlich aus einer wieder sehr gefährlichen Selbstzufriedenheit über den Zustand der Welt, in der wir leben, aufrütteln könnte, werden als Neurotiker stigmatisiert, werden als ein neues wissenschaftliches Betätigungsfeld der psychiatrischen PTSD-Forschung verdinglicht, werden als Objekte behandelt, statt als eine Gruppe, die uns allen etwas von höchster Bedeutung mitzuteilen hat.“

Ich komme zu meinen Schlußbemerkungen.

Wir begannen mit der Geschichte von Herrn S., wie sie von Max Horkheimer überliefert wurde. Zu ihr kehren wir nun zurück.

Horkheimer, – Verfasser der Kritik der instrumentellen Vernunft, Mitverfasser der Dialektik der Aufklärung zusammen mit Alexander Mitscherlich Mitbegründer des Sigmund-Freud-Institutes, Rektor der Johann Wolfgang-Goethe Universität Frankfurt, Direktor des Instituts für Sozialforschung – hatte schon in den 50er Jahren einen klaren Blick auf eine Entwicklung, die sich jetzt vor unseren Augen entfaltet; nämlich dass psychologische Theorien über das Individuum in der heutigen Gesellschaft einen Janus-Charakter haben. Einerseits hat die ‚Trauma‘-Debatte viel dazu beigetragen, ein breiteres Publikum über die verheerenden Auswirkungen von Verfolgung auf die Opfer des Holocaust aufzuklären – andererseits wird immer klarer, dass dieselben Theorien so etwas wie einen ideologischen Charakter annehmen.

Wir brauchen nur den Bedeutungswandel des Wortes ‚Trauma‘ selber in den Medien und in den populären Veröffentlichungen zu verfolgen, um dessen Aushöhlung und Trivialisierung wahrzunehmen. Ich nenne dazu nur vier Beispiele aus einer Reihe, die Sie selbst täglich ergänzen können:

Das Nachrichtenmagazin SPIEGEL berichtet etwa vom „schlimmen Trauma“ der deutschen Segler, seit Jahrzehnten mit dem Makel nicht fertig werden zu können, bei den bedeutendsten Hochseeregatten keine Rolle zu spielen.[16]

Bernd Bormann wird in dem Buch von Dan Bar-On mit einer Aussage über seinen Vater [Martin] folgendermaßen zitiert: „Mein Vater hat von 1932 bis zum Februar 1945 immer wieder Briefwechsel mit einer Reihe von Leuten im Rasse-‘Siedlungs- und Hauptamt geführt und die verschiedensten Leute eingesetzt, um seinen Urgroßvater zu finden. Er hat ihn nicht gefunden, und das muß für ihn ein Trauma gewesen sein.“ (S.183. Man muss sich das einen Moment auf der Zunge zergehen lassen: ‚traumatisiert‘ wird hier jemand dadurch, dass er seine ‚arische‘ Herkunft nicht beweisen kann.)

In dem gerade erschienenen Buch von Christian Schneider, Cordelia Stillke und Bernd Leineweber, Trauma und Kritik, hat Trauma die Bedeutung der kollektiven Frustration angenommen, die von der 68er Generation gespürt wird, wenn sie feststellt, dass sie zur neueren deutschen Geschichte kein unbefangenes Verhältnis einnehmen kann.

Als letztes Beispiel sei hier Gitta Serenys Biographie von Albert Speer genannt, der den Untertitel trägt: Das Ringen um die Wahrheit und das deutsche Trauma.

Horkheimer war davon überzeugt, dass eine ernsthafte Auseinandersetzung mit einem nicht-trivialen Verständnis des Individuums in der heutigen Gesellschaft – nach den zwei Weltkriegen – durch eine Gesellschaftstheorie ergänzt werden muss, die ihre Herkunft nicht aus der Naturwissenschaft herleitet, sondern aus der Philosophie und der Soziologie. Er sah darin die einzige Möglichkeit, eine emphatische Bedeutung von Erinnerung sowohl im individuellen als auch im kollektiven Sinne zu bewahren.

Die Geschichte von Herrn S. und so vielen anderen beweist, dass solche Bemühungen alles andere als die Elfenbeinturmkonstrukte von weltfremden Theoretikern sind.

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Die Form der Reflexion über Traumata unterscheidet sich nicht so wesentlich vom Nachdenken über Verkehrsunfälle oder Flugzeugabstürze. Wir trösten uns, indem wir an Airbags, Körperkontrollen, Sicherheitsvorschriften, Polizeimaßnahmen, Reiseversicherungen, Hilfe für Schwerverletzte und trauernde Hinterbliebene denken. Wir haben nichts an solchen Maßnahmen auszusetzen, oder an den Berufen und Gruppen, die damit ihren Lebensunterhalt verdienen: Sicherheitskräfte, Verkehrspolizisten, Luftsicherheitsbehörden, Seelsorger und Versicherungen. Doch trägt unsere Ohnmacht angesichts der übermächtigen Branchenmultis, die unser Leben bestimmen – Autoindustrie, Bankenriesen, Öl- und Softwaremultis – dazu bei, nicht mehr wahrnehmen zu können, was solch ein rein pragmatisches und instrumentelles Denken subtil verschleiert: nämlich die Art und Weise, wie, im Zeichen der ‚Globalisierung‘, die zentralen Institutionen der zeitgenössischen Gesellschaft immer eindeutiger auf Profitmaximierung ausgerichtet werden, sich zunehmend von demokratischer Legitimation abkoppeln, wie sie sich zunehmend auf Privatisierung und Aktienmärkte hinorientieren. Demgegenüber zu behaupten, dass die sich ausbreitende Gewalttätigkeit und Aggression, welche wir täglich um uns herum erleben, mit Methoden oder Denkmodellen der Traumatherapeuten „geheilt“ werden könne, ist ungefähr so überzeugend wie Wagner-Jaureggs Idee, dass Kriegstraumatisierte des Ersten Weltkriegs mit Stromstößen geheilt werden sollten – wogegen Freud sich im übrigen öffentlich ausgesprochen hatte, und dadurch einen ersten deutlichen Bruch mit den organmedizinischen Vorstellungen seiner Psychiatriekollegen vollzog.

Max Horkheimer:

„Menschen wie ich, nicht bloß im allgemeinen wie ich, sondern im spezifischen, also Juden, die aussahen und dachten wie Juden, wie mein Vater und meine Mutter und ich selber, wurden im Konzentrationslager, eben deshalb, weil sie so waren, zu Abertausenden am Ende jahrelanger furchtbarer Angst, nach unsäglichen Demütigungen, unvorstellbarer Zwangsarbeit, Schlägen und Martern langsam zu Tode gefoltert, weil sie so aussahen und dachten wie Juden, jahrelang in furchtbarer Angst gehalten und schließlich zu Tode gemartert ... Ich soll an mir noch Befriedigung, Frieden finden, da mein Leben doch den sinnlosen, unverdienten Zufall, das Unrecht, die Blindheit des Lebens überhaupt bezeugt, daß ich mich schämen muß, noch dazusein.“[17]

3. Nebenbei:

Die Anmerkungen eines 24jährigen Musikers zu diesem Themenbereich

„Eben die Tatsache der Vernachlässigung des Bewußtseinszusammenhanges als der konstitutiven Bedingung aller Erlebnisse ist es, die Freud zur Kritik der Psychiatrie führte und damit die psychoanalytische Methode inaugurierte. Die Psychiatrie, Nebenprodukt der experimentellen Psychologie, soweit sie nicht bloß vom ungewissen Erbe der medizinischen Tradition lebte, war atomistisch ganz und gar: und in einem Bereich, in dem atomistische Forschungsweise die aufgegebenen Probleme überhaupt nicht erreichen konnte. Bei den Geisteskrankheiten, deren physische Ursachen nicht etwa, wie bei der Paralyse, offen zutage liegen, wußte sie  und weiß heute noch  nichts anderes zu tun, als Symptome anzugeben und allenfalls zu klassifizieren, also Beobachtungen zu sammeln, die sie zwar zu vereinheitlichen trachtet, deren Bezogenheit auf die Einheit des persönlichen Bewußtseins aber ihr völlig fremd bleibt. Die Symptome, so genommen, wie die Psychiatrie sie nimmt, sind sinnlos und isoliert. Der Psychiater ist zwar in der Lage, die Symptome mit der äußeren Realität zu konfrontieren und einzuteilen nach der Art, wie sie sich zur äußeren Realität verhalten; er kann etwa von Wahnideen reden überall dort, wo ihm bei seinen Patienten Vorstellungen begegnen, die zwar nicht in sich widerspruchsvoll sind, die aber durch den Rekurs auf die Erfahrung widerlegt werden müßten, ohne daß es gelänge, durch diesen Rekurs beim Kranken die Vorstellungen zu widerlegen, selbst wenn er ihn willig vollzieht. Damit aber ist die Leistung der herkömmlichen Psychiatrie erschöpft. Auf die Frage, warum, wenn den Wahnideen kein Substrat in der materiellen Welt zugrunde liegt, sie sich bilden; warum sie sich so und nicht auf beliebig andere Weise bilden, kann der Psychiater nicht antworten. Er wird vielleicht, wie Freud in seinen ‚Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse‘ – denen wir, wo es sich um die Darstellung der psychoanalytischen Methode handelt, durchwegs folgen – ausführt, entgegnen: ‚Wahnideen kommen bei solchen Personen vor, in deren Familien ähnliche und andere psychische Störungen wiederholt vorgekommen sind‘, also wiederum auf Bedingungen rekurrieren, die nicht solche des Bewußtseinszusammenhanges des Patienten sind und aus denen weder das bestimmte Symptom sich ableiten noch der gesamte Zustand des Patienten sich einsichtig machen läßt. Da die Kenntnis der Bedingungen des Symptoms fehlt, kann sich an die Konstatierung des Tatbestandes auch keine gesetzmäßige Erwartung kommender Phänomene anschließen und eine Behandlung ist darum allein schon aussichtslos. Der Psychiater ‚muß sich mit der Diagnose‘ (d.h. der Rubrizierung des Symptoms) ‚und einer trotz reichlicher Erfahrung unsicheren‘ (nämlich aus vagen Analogieschlüssen gewonnenen) ‚Prognose des weiteren Verlaufes begnügen‘ (Vorl., 257). Hier kann ‚die Psychoanalyse mehr leisten‘ (Vorl., 258). Sie geht aus von dem Satz, daß alles Psychische einen Sinn hat, ...“ (Theodor W. Adorno, GS 1, Der Begriff des Unbewußten in der transzendentalen Seelenlehre S. 229 f.)

Bibliographie

Bettelheim, Bruno (1943): Individual and mass behavior in extreme situations.

B. Bettelheim. In: Journal of Abnormal and Social Psychology, vol. 38 (1943), pag. 417-452.

Cohen, E. A. (1952): Het Duitse concentratiekamp : een medische en psychologische studie. Amsterdam : Paris, 1952.

De Wind, Eddy 1981. Eindstation Auschwitz Van Gennep, Amsterdam 1981 [1946].

Eissler, K. R. (1967): „Perverted psychiatry?“ in: The American Journal of Psychiatry vol. 123 (1967),

Friedman, P. (1948): „The Effects of Imprisonment“ in: Acta Medica Orientalia, 7, p. 163.

Pross: p. 329.

Friedman, P. (1949): „Some aspects of concentration camp psychology“ in: American J. of Psychiatry, 105, p. 601.

Pross: p. 329.

Jacoby, Russell (1983): The Repression of Psychoanalysis – Otto Fenichel and the political Freudians N.Y. (Basic Books). German: Frankfurt/M. 1985 (Fischer Verlag).

Jacoby, Russell (1996): Social Amnesia – A critique of Conformist Psychology from Adler to Laing (2nd ed, new introduction).

Minkowski, E. (1946): „L‘annesthesie affective“ in: Annales médico-psychologique, p. 80.

quoted in Pross: p. 150.

Niederland, William G. (1980): Folgen der Verfolgung: das Überlebenden-Syndrom Seelenmord.

Tas, Jacques (1946): „Psychical Disorders among inmates of Concentration Camps and Repatriates“. Reprinted: Psychoanal. Quart. vol. 25 (1951) p. 679. Reprinted (with intro) 1996 in: Han Groen-Prakken et. al.: Traumatisation and War – The Dutch Annual of Psychoanalysis, vol. (op. cit.).

Notes:

[1] Vortrag – Jüdische Volkshochschule, Frankfurt, 19.11.2000

[2] MH GS 18, S. 424. (Horkheimer hat sich 8 Jahre lang mit Herrn S. befaßt: 1956-1963).

[3] MH 18:431

[4] Pross:10/11.

[5] MH 427

[6] MH 18:425.

[7] Pross 152.

[8] Pross 152/153. „Prof. Dr. Friedrich Panse arbeitete in den zwanziger Jahren an der Nervenklinik der Charité unter Karl Bonhoeffer. Er publizierte damals einige Arbeiten über die Rentenneurose, in denen er behauptet, daß Kriegsneurotiker durch die Streichung der Rente symptomfrei würden. Im selben Atemzug protestierte er gegen die ‚sozialdemokratischen Angriffe‘ auf seine wissenschaftlich fundierte Haltung. Im Dritten Reich war Panse Beisitzer an den Erbgesundheitsobergerichten Berlin und Köln. Im Krieg betätigte er sich als Gutachter bei den Euthanasieaktionen im Rheinland, außerdem leitete er das Reservelazarett Ensen bei Köln, wo er die berüchtigte Stromstoßtherapie, oder, wie er es nannte ‚energische Suggestivbehandlung von Kriegsneurotikern mit stärkeren galvanischen Strömen‘ praktizierte. Nach dem Krieg wurde Panse Direktor der Psychiatrischen Klinik in Düsseldorf. In einer 1952 erscheinenen ... Studie über die Reaktionen der deutschen Zivilbevölkerung auf die Luftangriffe im Zweiten Weltkrieg schrieb er: ‚Menschen ... bei denen die psychische (charakterliche) Struktur von jeher Mängel aufweist, wie bei ... intellektuell Unterwertigen, können dem Drängen der Triebe, Emotionen und Instinkte im Aufruhr der Angst naturgemäß noch viel weniger widerstehen als im täglichen Leben‘.“ (Pross: 153)
Erster Weltkrieg: Kriegsneurosen, Kriegshysterien, „Kriegsschüttler“, „Kriegszitterer“. Ein Freud-Zitat (from Eissler on Freud & Wagner-Jauregg, c.f. „Freud as expert witness“): „... den Ärzten ist so etwas wie die Rolle von Maschinengewehren hinter der Front zugefallen, die Rolle, die Flüchtlingen zurückzutreiben ... Zwischen der Unterordnung unter die Humanität und der allgemeinen Wehrpflicht läßt sich ein Kompromiß nich herstellen“ (c.f. Karl Bonhoeffer, Wilhelm Griesinger, Emil Kraepelin, Ernst Kretschmer, F. Panse, Cesare Lombroso)

[9] Im übrigen gilt dies bis zum heutigen Tag. „Trauma“ lautet das Schwerpunktthema des DPV-Kongresses, der ab Mittwoch kommender Woche im Palmengarten hier in Frankfurt stattfinden wird.

[10] David J. de Levita: „Redevoering van prof. De Levita tijdens de herdenkingsreünie“, in: Auschwitz Bulletin, Bd. 42, Nr. 2, S. 7.

[11] Miriam Rieck/Leo Eitinger: Computerised and annotated bibliography of the psychological literature concerned with Holocaust survivors and their offspring, Ray D. Wolfe Center for Study of Psychological Stress, University of Haifa, Israel.

[12] In Israel „machte der Staatsanwalt den Justizminister im August 1949 auf den beunruhigenden Anstieg von Selbstmorden unter neu angekommenen Ein­wanderern, darunter Holocaust-Überlebenden aufmerksam.“ Tom Segev: Die siebte Million, Jerusalem, S. 160.

[13] De Levita, a.a.O., S. 6.

[14] „Holocaust-Erzählungen – Beobachtungen transgenerationaler Entwicklung“, in: Mittelweg 36, Bd. 5, Juni/Juli 1996, S. 44-52.

[15] Rainer Rehberger: „Die Zweite Generation als Opfer der Verfolgung – Psychoanalytische Überlegungen zur Generationenpsychologie“, in: Gertrud Hardtmann (Hg.): Spuren der Verfolgung. Seelische Auswirkungen des Holocaust auf die Opfer und ihre Kinder. Gerlingen 1992.

[16] Heft 23/1999, S. 139

[17] Max Horkheimer, „Der Entronne“, Gesammelte Schriften, Hg. Alfred Schmidt, Frankfurt/M. 1991, Bd. 6, S. 405.