Noordhollands Dagblad , Samstag, 29. November 2003, S. 4

 

'Anne Frank war nicht das einzige vom Zweiten Weltkrieg betroffene Kind'

 

DEN HELDER. Bedächtig schiebt Frederik van Gelder die Fotos zur Seite. Die meisten von ihnen sind im Laufe der Jahre vergilbt. Auf einer der Aufnahmen ist ein gepflegter Herr zu sehen. "Das ist Doktor Egbert Loesberg aus Den Helder", erklärt er. "Der Mann, der das Leben meiner Eltern während der deutschen Besatzungszeit gerettet hat. Und damit auch mein Leben." Van Gelder ist sich dessen bewusst, dass er ohne diesen Mann jene Fotos 58 Jahre später in seinem ehemaligen Elternhaus am Binnenhaven nicht hätte betrachten können.

 

Van Gelder ist nach Den Helder gekommen, um Auskunft über seine Familie zu finden. Begleitet wird er von einem deutsch-französischen Fernsehteam, das einen Film über seine Suche dreht – sechzig Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Nach über einem halben Jahrhundert ist er wieder dorthin zurückgekehrt, wo er seine frühe Kindheit verbracht hat, ins Haus mit der Nummer 35. Dort befand sich früher die Metzgerei seines Vaters. Es macht ihm viel aus. "Man hat doch immer das Bedürfnis, irgendwo hinzugehören. Dies ist mein Zuhause. Hier in Den Helder", so Van Gelder, der momentan sowohl in Frankfurt als auch in Amsterdam lebt. Nun sitzt er gemeinsam mit der heutigen Hausbewohnerin, W. Weerstand, am Wohnzimmertisch, sieht sich mit ihr Fotos an und lässt Erinnerungen aufkommen. Hinter ihnen filmt eine Kamera, und gelegentlich stellt jemand eine Frage. "Schauen Sie mal, dieses Foto, Frau Weerstand. Das bin ich", sagt Van Gelder stolz. "Ein gut aussehender Junge, stimmt's?"

 

Untertauchen

Van Gelder kam gegen Ende des Kriegs in einem Versteck auf die Welt. So wurde er zu einem so genannten 'untergetauchten Baby'. "Weil meine Eltern jüdischer Herkunft waren, mussten sie ab einem bestimmten Zeitpunkt untertauchen. Zuerst kamen sie bei dem Lebensmittelhändler Frans Rieselman in der Zuidstraat unter. Dort blieben sie von Mitte Januar 1943 bis September 1944 im Versteck. Ich bin sogar nach diesem Lebensmittelhändler benannt worden." Und wieder werden Fotos auf den Tisch gelegt und aufmerksam betrachtet. "Bei meiner Geburt wurde hier im Ort noch heftig gekämpft. Das hörte erst auf, als der Krieg definitiv zu Ende war. Als sich meine Geburt ankündigte, hat Doktor Loesberg meinen Eltern angeboten, bei ihm unterzutauchen. Das war beachtlich. Das bedeutete, dass er sein eigenes Leben für andere riskierte. Aber er hat es gemacht, und deshalb versteckten sich meine Eltern ab September 1944 dort bei ihm an der Westgracht. Jetzt, mehr als fünfzig Jahre später, habe ich zum ersten Mal mit jemandem von dieser Gastfamilie gesprochen, nämlich mit dem Sohn von Doktor Loesberg, Paul Loesberg. Gesehen hatte ich ihn vorher noch nie, aber ich erkannte ihn sofort."

Ab und zu schaut Van Gelder nachdenklich vor sich hin. "Ja, jetzt, wo ich hier wieder zurück bin, gibt es durchaus Momente, in denen man schlucken muss."

 

Konzentrationslager

"Abgesehen von meinen Eltern, habe ich im Zweiten Weltkrieg meine gesamte Familie verloren." Er zieht zwei Dokumente von 1948 zu sich heran. Sie bestätigen den Tod von Familienmitgliedern in Konzentrationslagern. In der Mappe liegen Fotos von seinem Vater und seinem Großvater.

"Es ist für mich wichtig, zu hören, wie es damals war, hier in Den Helder während des Kriegs zu leben. Nachdem ich nun mit einigen Leuten aus der Stadt gesprochen habe, kann ich mir eher ein Bild davon machen. Und mir auch meine eigene Familie hier besser vorstellen."

Während der mittlerweile 58 Jahre alte Van Gelder durch die Wohnung geht, erinnert er sich zunehmend an Details von früher. "Ich war zwar erst fünf Jahre alt, als wir dieses Haus verließen, aber ich weiß noch ziemlich viel." So erinnert er sich etwa an den Hinterhof. Während Frau Weerstand über den Garten erzählt, schaut er sich interessiert um. "Die Bäume und der kleine Sandkasten. Ja, das kenne ich auch noch alles."

Als er in seinem ehemaligen Schlafzimmer steht, das nun das Schlafzimmer einer der Töchter der Familie Weerstand ist, wird er etwas stiller. "Das war mein Zimmer. Ich habe etwas mit dir gemeinsam", sagt er, freundlich lächelnd, zu einer der beiden Töchter, "nämlich dasselbe Zimmer. Ja, an mein Schlafzimmer erinnere ich mich noch gut. Ich weiß auch noch, dass ich immer große Angst vor diesem Zimmer hatte. Warum, weiß ich nicht. Irgendwie ist es verbunden mit Erinnerungen an Gasmasken."

 

Lebensthema

Bis zum Kriegsende blieb die Familie bei Doktor Loesberg. Danach kehrte sie zum Binnenhaven zurück, um schließlich 1950 nach Südafrika zu emigrieren. "Dort wurde ich schon früh mit Rassismus konfrontiert. Als ich mein Zahnarztstudium beendet hatte, gab es nur die Wahl, entweder Partei zu ergreifen oder zu tun, als wäre nichts. Ich beschloss, mich der Anti-Apartheidsbewegung anzuschließen. Mein Vater hatte dem Judentum inzwischen abgeschworen. Er veränderte sogar seinen Vornamen." Van Gelder verstand seinen Vater damals nicht. "Ich rebellierte gegen ihn. Ich verstand nämlich nicht, dass er immer noch auf die Deutschen schimpfte. Deutsche wirkten auf ihn wie ein rotes Tuch."

Dies war auch einer der Gründe, weshalb er sich vor dem Hintergrund des Anti-Apartheidskampfes immer intensiver mit dem Zweiten Weltkrieg befasste. "Ich fragte mich ständig, wie es bloß möglich war, dass die Welt so zusammenbrechen konnte. Was ich herausfand, war: je mehr man sich damit beschäftigt, desto weniger versteht man, dass sechs Millionen Menschen umgebracht wurden. Der Holocaust ist zu einem Schwerpunktthema für mich geworden. Ich versuche nämlich, das alles zu begreifen."

Der Grund für die Rückkehr an seinen Geburtsort ist ein Film, in dem es um die Geschichte seiner Familie und seine Suche nach der Vergangenheit geht. Van Gelder dazu: "1992 gab es in Amsterdam einen Kongress zum Thema 'Die untergetauchten Kinder'. Darüber habe ich hinterher einen Artikel geschrieben, 'Anne Frank was not alone' ('Anne Frank war nicht die einzige'). Darin ging es um die vielen Menschen, die den Krieg [und die Judenverfolgung] als Kinder miterlebt hatten." Durch diesen Artikel wurde das Fernsehteam überhaupt erst auf ihn aufmerksam.

Van Gelder zögerte zunächst, an dem Film mitzuarbeiten. "Ich bin ein Wissenschaftler. Ich versuche, mich den Dingen so objektiv wie möglich zu nähern. Aber wenn man in einem Film zu Wort kommt, in dem es um die eigene Familie geht, wird es sehr persönlich. Das bereitete mir Unbehagen." Doch schließlich überwogen die Gründe, sich darauf einzulassen: "Vor allem als Hommage an Doktor Loesberg und die anderen. An diejenigen Menschen, die ihr eigenes Leben und das ihrer Familie riskierten, um anderen zu helfen. Das ist großartig."

Für den Film, der 2005 gesendet werden wird und dann wahrscheinlich auch in den Niederlanden zu sehen sein wird, stehen noch weitere Drehorte auf dem Programm: "Wir fliegen noch nach Südafrika und nach Australien, wo meine Schwester lebt. Wir werden in Melbourne über Den Helder sprechen, über unsere Familie."

Van Gelder berichtet auch, dass er durch seinen Besuch in Den Helder Antwort auf Fragen erhalten hat, die er vorher gar nicht hätte stellen können. "Wir sind auf dem jüdischen Friedhof in Huisduinen gewesen. Dort fand ich die Gräber von vielen Familienangehörigen. Es stellte sich heraus, dass dort ein Onkel meines Vaters begraben ist: mein Großonkel. Und eine junge Frau, an deren Namen ich mich noch erinnern kann, Roosje Polak. Das ist ein seltsames Gefühl."

Während seines Aufenthalts in der Marinestadt lädt Van Gelder einige Personen ein, die ihm noch weitere Dinge über die Vergangenheit erzählen können. Eine Frau, die früher sein Kindermädchen war, geht auf ihn zu und umarmt ihn innig: "Weißt du noch, dass ich dir die Windeln gewechselt habe?" fragt sie halb weinend und halb lachend. Van Gelder ist verblüfft und belustigt zugleich. "Man fühlt sich so gespalten", sagt er hinterher, "denn den kleinen Freek von damals gibt es nicht mehr. Was man an Erinnerungen in seinem Kopf mit sich herumträgt, hat nichts mehr mit der Welt von heute zu tun. Etwas philosophisch, oder?"

Was ihm hilft, ist, mit den anderen über seine Familie zu reden. "Nach diesen Gesprächen habe ich meinen Vater zum ersten Mal verstanden. Ich komme allmählich dahinter, weshalb er so war, wie er war."