»Die gegenwärtige Ideologie rezipiert ebenso als Gefäß die jeweils schon durchs Allgemeine vermittelte Psychologie der Einzelnen, wie sie in den Einzelnen das Allgemeine unablässig aufs neue hervorbringt. Bann und Ideologie sind dasselbe. Diese hat ihre Fatalität daran, daß sie zurückdatiert auf die Biologie. [...] Weil Selbsterhaltung durch die Äonen hindurch schwierig und prekär war, haben die Ichtriebe, ihr Instrument, fast unwiderstehliche Gewalt, auch nachdem Selbsterhaltung durch die Technik virtuell leicht ward; größere als die Objekttriebe, deren Spezialist, Freud, es verkannte.«[131]
II. Teil
Das Theorie/Praxis–Problem neu formuliert: Evolutionstheorie als Ideologiekritik und als Erkenntnistheorie
Überblick: Statt »politische Ökonomie«: Wissenschaftstheorie als Ausdruck des 'antagonistischen Ganzen' – und umgekehrt
Die in diesem Abschnitt zu behandelnden Arbeiten von Habermas (»Literaturbericht[...]«, Erkenntnis und Interesse, Theorie und Praxis und Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus) lassen sich als Stationen auf dem Wege zu einem einzigen Ziel auffassen: intendiert wird eine stringente, mit allen, der modernen empirischen Sozialforschung zur Verfügung stehenden Mitteln vorangetriebene Evolutionstheorie, die gleichzeitig eine 'letzte' Philosophie sein will[132], d.h. den Blick dafür öffnen soll, wie das über Kant und Hegel Gelernte jetzt – in einer Welt, die im Begriff steht, mit modernen Waffensystemen die Marxsche Zusammenbruchsprognose zu verifizieren – in rationale Willensbildungsprozesse noch 'umzusetzen' wäre[133]. Diese »Geschichtsphilosophie in praktischer Absicht«, wie er es schon im »Literaturbericht« nennt[134], durchläuft mehrere Reformulierungen. An der Gegenüberstellung Heidegger/Faschismus wird der junge Habermas eines Philosophiebegriffs gewahr, dessen radikale Weltverneinung u.U. verheerende – wenngleich auch keineswegs intendierte – politische Folgen haben könnte: das wohl überpointierte Begriffspaar »Heidegger/Hitler« veranschaulicht den Komplex, der den Habermas der fünfziger Jahre dazu veranlaßt, mit der »traditionellen« Philosophie (die er, kurz zuvor, mit seiner Schelling–Dissertation selbst noch vertrat) endgültig zu brechen. An den wechselseitigen 'Vermittlungen' zwischen einer jedes diesseitige Handeln verpönenden »vita contemplativa« und den Realitäten einer Welt, wo, wie er schon 1958 ahnt, »Abrüstung [...] die einzige Chance dauerhaften Überlebens ist«[135], wird er, über Lukács' Geschichte und Klassenbewußtsein und die Dialektik der Aufklärung, einer »Theorie/Praxis–Problematik« inne, die er zunächst marximmanent, im »Geist der Marxschen Frühschriften«[136] verfolgt. Schlüssig scheint ihm der Beweis, daß eine konsequente Konstitutions– und Erkenntnistheorie – wird sie doch mit Mitteln erforscht, die selbst »Ausdruck eben der Lage [sind], die aufgehoben werden soll«[137] – innerphilosophisch gar nicht möglich ist: »Sobald sich Philosophie ihrem innersten Anspruch gemäß verwirklicht, verliert sie ihre Gestalt als Philosophie. Denn indem sie kritisch die Praxis entfacht, die den Mängeln der Welt ein Ende macht, macht sie sich selbst ein Ende[...]«[138].
Auch er kommt zu demselben Ergebnis wie das Autorenkollektiv der Zeitschrift für Sozialforschung zwanzig Jahre zuvor. Die Einsicht in die Notwendigkeit, die für die Philosophie, wie er sagt, den Übergang in die »'ganz andere' Sphäre der Praxis«[139] erzwingt, läuft einer anderen, nicht weniger zwingenden Einsicht zuwider: die »politische und ideologische Realität des Sowjetregimes«[140] ist mit den Marxschen Ursprüngen nicht mehr zu decken. Zwischen der »religionspsychologischen Pseudoerklärung«[141] einer »stalinistischen Scholastik« und den ursprünglichen Intentionen des Historischen Materialismus klafft »ein Abgrund, nicht nur der Lehre und ihres Verfahrens, sondern des philosophischen Kritisierens überhaupt«[142].
Aus dieser Aporie führt auf die Dauer nur der Weg heraus, den die Kritische Theorie der dreißiger Jahre auch schon im Sinn hatte; »die Selbstaufhebung der Philosophie und ihre Verwirklichung durch Praxis«, wie es noch im »Literaturbericht[...]« heißt[143], muß unabhängig von Marx konzipiert, ihre Realisierung in der empirischen Welt unabhängig vom 'real existierenden Sozialismus' gedacht werden. Es ist dies der steinige Weg, den Habermas über Theorie und Praxis, Erkenntnis und Interesse zu Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus und Theorie des kommunikativen Handelns führt. Seine Marx–Kritik, die sich durch sein ganzes Werk hindurchzieht, kann anhand zweier Thesen verfolgt werden:
1) Marx hat die philosophische Reflexion zu früh dadurch abgebrochen, daß er die Naturwissenschaften – außer in der partikularen, 'angewandten' Gestalt der Nationalökonomie – nicht als solche als 'entfremdetes Bewußtsein' durchschaute[144];
2) Marx hat, von szientifischen Prämissen belastet, Prozesse der sozialen Evolution (deren Einsicht den Platz der traditionellen Transzendentalphilosophie hätte übernehmen sollen) nicht überzeugend erklären können.
Der Begriff »erkenntnisleitendes Interesse« – 1968 ausgearbeitet – hat diese Einsicht in sich aufgenommen und markiert zwei wesentliche 'Korrekturen' gegenüber dem Marxschen Stand des 'Theorie/Praxis'–Problems. Die Konstruktion von dreierlei 'Wissens–' oder 'Diskurstypen' postuliert einen Fetischbegriff[145], der zwar – wie der Marxsche – im ökonomischen Bereich sich illustrieren läßt, aber nicht mehr anhand des von Marx gemachten (seinerseits von Hegels Logik abgeleiteten) Unterschieds von abstrakt–allgemeiner/konkret–bestimmter Arbeit. Das (von der Realgeschichte zwangsläufig produzierte) 'verdinglichte Bewußtsein' läßt sich nicht an der (vom Bürgertum als ewig vorgestellten) geschichtlichen Bedingtheit der kapitalistischen Produktionsweise demonstrieren – so könnte die Differenz gegenüber Marx formuliert werden –, sondern daran, daß ein psychologisches System von Grundbegriffen, Orientierungen und Erwartungen, die ihren geschichtlichen Ursprung der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit der äußeren Natur verdanken, sich 'universalisiert' hat und dadurch die zusätzliche Funktion der Legitimierung von Herrschaftsverhältnissen übernommen hat[146]. In dem Maße, wie die von Horkheimer so genannte instrumentelle Vernunft sich als allgemeine Weltanschauung etabliert, breitet sich nach der Habermasschen Terminologie ein 'Rationalitätskomplex' aus, der es für die Mitglieder moderner Gesellschaften immer schwieriger macht, sich glaubwürdig auf normative Aussagen beziehen zu können: höchst reale Macht– und Herrschaftsverhältnisse können sich (was gattungsgeschichtlich einen neuartigen Legitimationstypus darstellt) hinter der Fassade einer universalisierten Ding–Ereignis–Sprache verbergen, die die Möglichkeit von moralischen Urteilen überhaupt in ihrer kategorialen Struktur in Frage stellt, um nur noch Hypothesen über kausale Zusammenhänge als 'objektiv' und 'wahr' zuzulassen[147].
Als psychisches Phänomen aufgefaßt, hat dieser Fetischbegriff – wie sehr er auch an Lukács' 'Verdinglichungstheorie' erinnern mag[148] – doch einen anderen Stellenwert als der Marxsche. Weil Marx sich die mäeutische 'Bewußtmachung' undurchschauter Pseudoaprioris nach dem Muster der Hegelschen Logik vorstellt, – d.h. zwischen individuellen Reflexionsleistungen und makrosoziologischen Prozessen (politischen Richtungskämpfen) ungenügend differenziert – versteht er unter 'Aufklärung' eine Art von generalisierter französischer Revolution: wissenschaftliche Forschung (Ökonomie), Aufklärungsarbeit (eine Klasse, die noch 'an sich', noch nicht 'für sich' ist) und politische Revolution (die Erweiterung von Steuerungskapazitäten auf gattungsgeschichtlicher Ebene) werden von ihm als ein einziger Vorgang konzipiert. Nach dem Marxschen Modell 'zeigen' sich vollzogene Reflexionsleistungen daran, daß das bürgerliche Individuum jenen 'objektiven Schein' der nur scheinbar so harmonisch ablaufenden Warenzirkulation als einen Machtimperativen gehorchenden Ausbeutungsprozeß 'durchschaut' hat: was gleichbedeutend damit ist, daß der 'Bourgeois' seine objektive Stellung im Klassenkampf begreift; moralische Aufrichtigkeit kann sich dann nur noch darin äußern, daß sich dieses Individuum im Lohnarbeit/ Kapital–Bürgerkrieg auf die Seite des Proletariats schlägt.[149]
Der Begriff »erkenntnisleitendes Interesse« eröffnet ganz andere Perspektiven. Wie das Marxsche Modell setzt auch dieser Begriff voraus, daß die objektivierenden Wissenschaften (wie im 19. Jahrhundert die Politische Ökonomie) ideologische Funktionen übernommen haben: naturwüchsig eingelebte und krisenträchtige Machtverhältnisse, die einer diskursiven Überprüfung nicht werden standhalten können, können hinter dem schönen Schein einer sich an Technologie orientierenden Wissenschaftsgläubigkeit, die politisches Handeln nur noch nach dem (Keynes'schen) Muster der sozialtechnischen Politikberatung zuläßt, 'zurücktreten'. Die realen »Interessen«, die hinter diesem Verblendungsapparat stecken sollen, werden aber nicht mehr in der Gestalt einer kapitalistischen Klasse, die ihren Willen über Markt und politische Manipulation durchsetzt, sondern als eine weitaus anonymere (wenn auch nicht weniger reale) Macht verstanden: letzter 'Grund' dieser Welt sollen jene gattungsuniversellen, »anthropologisch tiefsitzenden erkenntnisleitenden Interessen«[150] sein, die eher in der biologischen Beschaffenheit dieser Spezie als im Tauschvorgang ihre Wurzel haben. Wie der Tauschvorgang, so werden auch diese »Interessen« als reale aufgefaßt: die Auseinandersetzung mit der äußeren Natur, der inneren Natur und der Gesellschaft sind für die Gattung Mensch ja nicht weniger lebensnotwendig als die »Klauen und Zähne der Tiere«[151]. Wie die gesellschaftliche Arbeit, so funktionieren auch diese 'Interessen' buchstäblich als gesellschaftliche 'Aprioris' – das ist der Grundgedanke von Habermas: sie sind der eigentliche Grund und die wirkliche Basis jenes verzerrten und verdinglichten Bewußtseins, die die Welt auf ihrem naturwüchsigen Weg zum endgültigen »Untergang«[152] als falsche Widerspiegelung eines wahren Prozesses werden begleiten können. Durch den kulturellen Bruch mit der Natur haben wir, als Gattung, biologisch notwendige 'Stoffwechselprozesse' in die Kultur aufgenommen und 'aufgehoben'; anders als im Tierreich zeigen sich diese Anpassungsorgane aber nicht in anatomischen (Klauen, Zähne), sondern in Bewußtseinsstrukturen: in eben jenen Bewußtseinsstrukturen, die der Deutsche Idealismus seit Kant fälschlicherweise als die 'Gesetze der reinen Vernunft' sondiert hat, um unter dem Topos der 'a priori Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung' in die Schulphilosophie einzugehen. Die in der Philosophie exemplarisch ausgebildeten Methoden, die eine phänomenologische 'Bewußtmachung' kategorialer Erkenntnisleistungen bezwecken, legen aber nicht, so Habermas, die Konturen eines transzendentalen Subjekts frei, und schon gar nicht die Konturen eines 'mit sich selbst identischen' Proletariats, sondern die Physiognomie einer Gattung, die ihre Umwelt unter den 'transzendentalen' Gesichtspunkten ihrer eigenen biologischen Bedürfnisstrukturen objektiviert hat. Nicht am Arbeitsbegriff, sondern an den unterschiedlichen 'transzendentalen Rahmen', die die Naturwissenschaften, die Geisteswissenschaften und die Künste jeweils 'naiv' voraussetzen, werden wir jener synthetischen Leistungen gewahr, die von einer Gattung 'entwickelt' wurden, die ohne Technik, ohne Prozesse der sozialen Integration und ohne einen Sozialisationsprozeß ('kulturelle Reproduktion') nicht überlebensfähig wäre:
»Die Einstellung auf technische Verfügung, auf lebenspraktische Verständigung und auf Emanzipation von naturwüchsigem Zwang legt [...] die spezifischen Gesichtspunke fest, unter denen wir die Realität als solche erst auffassen können. Indem wir der Unüberschreitbarkeit dieser transzendentalen Grenzen möglicher Weltauffassung innewerden, erwirbt sich durch uns ein Stück Natur Autonomie in der Natur. Wenn Erkenntnis je ihr eingeborenes Interesse überlisten könnte, dann in dieser Einsicht, daß die Vermittlung von Subjekt und Objekt, die das philosophische Bewußtsein ausschließlich seiner Synthesis zurechnet, anfänglich durch Interessen hergestellt ist. Reflexiv kann der Geist dieser Naturbasis innewerden. Deren Gewalt reicht aber bis in die Logik der Forschung. [...] Methodische Grundsatzentscheidungen, etwa so fundamentale Unterscheidungen wie die zwischen kategorialem und nichtkategorialem Sein, zwischen analytischen und synthetischen Aussagen, zwischen deskriptivem und emotivem Gehalt, haben diesen eigentümlichen Charakter, weder willkürlich noch zwingend zu sein. Sie erweisen sich als angemessen oder verfehlt. Denn sie bemessen sich an der metalogischen Notwendigkeit von Interessen, die wir weder festlegen noch abbilden können, sondern treffen müssen. Meine erste These heißt deshalb: Die Leistungen des transzendentalen Subjekts haben ihre Basis in der Naturgeschichte der Menschengattung. Für sich genommen könnte diese These zu dem Mißverständnis führen, als sei die Vernunft der Menschen, wie die Klauen und Zähne der Tiere, ein Organ der Anpassung. Das ist sie gewiß auch. Aber die naturgeschichtlichen Interessen, auf die wir die erkenntnisleitenden zurückführen, gehen zugleich aus Natur und aus dem kulturellen Bruch mit Natur hervor. Zusammen mit dem Moment der Durchsetzung des Naturtriebs haben sie das Moment der Lösung von Naturzwang in sich aufgenommen. [...] Die spezifischen Gesichtspunkte, unter denen wir die Wirklichkeit transzendental notwendig auffassen, legen drei Kategorien möglichen Wissens fest: Informationen, die unsere technische Verfügungsgewalt erweitern; Interpretationen, die eine Orientierung des Handelns unter gemeinsamen Traditionen ermöglichen; und Analysen, die das Bewußtsein aus der Abhängigkeit von hypostasierten Gewalten lösen. Jene Gesichtspunkte entspringen dem Interessenzusammenhang einer Gattung, die von Haus aus an bestimmte Medien der Vergesellschaftung gebunden ist[...]«[153]
Habermas hat diesen Fetischbegriff nicht weiter ausgearbeitet (nach 1968); er scheint der Philosophischen Anthropologie und der Husserlschen Phänomenologie soweit noch gefolgt zu sein, um hinter der hier analysierten interessensspezifischen Erfahrungskonstitution eben nicht (wie Lukács und die Frankfurter Schule es getan haben[154]) eine noch zu ändernde kapitalistische Gesellschaft zu erblicken, sondern einen (invariant gedachten) Lebenszusammenhang, der, allen Theorien voraus (in der Sprache der Phänomenologie: 'präprädikativ') Erfahrung und Kognition schon so miteinander verbunden hat, daß die Wissenschaften innerhalb schon existierender 'kategorialer Rahmen' ihre Theorien nur aufstellen können[155]. Immerhin sind Bruchstücke dieses Fetischbegriffs weit genug ausgearbeitet worden, um die Differenz gegenüber Marx analysieren zu können. Neu ist die Idee, daß jene »einzigartige Chance, die gesellschaftlichen Verhältnisse zum ersten Mal in der Geschichte ganz, und das heißt frei von ideologischer Befangenheit zu reflektieren«[156], nicht wie Marx es sich dachte, dem Proletariat vorbehalten ist, sondern dem Wissenschaftssystem[157]. Nur den Naturwissenschaften, den Geisteswissenschaften und den Künsten ist es de facto gelungen, Prozeduren zu entwickeln, um jene Abkoppelung von Ideen und partikularen Interessen dauerhaft zu bewerkstelligen, die Hegel zwar klar vor Augen stand, aber nur in der Sprache des objektiven Idealismus beschreiben konnte; nur dem modernen Wissenschaftssystem ist es gelungen, die 'Produktion' von universellen (d.h. von partikularen Kollektivitäten losgelösten, 'postkonventionellen') Ich– und Identitätsstrukturen überhaupt zu institutionalisieren. Wie im Lukácsschen Proletariatsbegriff, so ist auch dieses »Subsystem« als noch nicht 'für sich', sondern als bloß 'an sich' gedacht. Als naturwüchsiges Produkt einer blutigen 'Vorgeschichte' hat das Wissenschaftssystem (aufgrund eben dieser, allerdings nur formalen Loslösung von partikularen Kollektivitäten) in der europäischen Moderne zwar:
1. das empirisch–technische Wissen bereitgestellt, das es potentiell möglich macht, endlich, wie Adorno es formulierte, »durch organisierte Arbeit dem Mangel an Lebensmitteln abzuhelfen«[158] ('äußere Natur');
2. das hermeneutisch–praktische Wissen bereitgestellt, das über die Erweiterung der Institutionen des bürgerlichen Rechtsstaates in gewaltfreien Prozessen der sozialen Integration seine reale Anwendung finden könnte[159] ('Gesellschaft');
3. das praktisch–therapeutische Wissen bereitgestellt, das ein auf die Emanzipation des Einzelnen zielendes Bildungs– und Erziehungssystem ermöglichen könnte ('innere Natur');
aber es kann dieses akkumulierte Wissen unter der fortwährenden Herrschaft eben jenes Organisationsprinzips, dem es seine eigenen Ursprünge verdankt (autonomer Nationalstaat, auf Privateigentum basierende Ökonomie, Militär), niemals zur Geltung bringen. Der Gedanke an eine von Armut und Krieg emanzipierte Welt kann deshalb zwar, so lange das Wissenschaftssystem nur noch 'an sich' bleibt, die Sondersparte Philosophie als Dauerthema beschäftigen, niemals aber mehr als eben tradierte utopische Hoffnung werden; die 'Verwirklichung' dieser Vernunft muß nämlich so lange ausbleiben, als das System der Wissenschaften noch nicht 'für sich' geworden ist, d.h. sich gegenüber partikularen Interessen noch nicht als das konstituiert hat, was es objektiv ('an sich') ohnehin schon ist: eine politische Einheit, deren Funktion es ist, gegenüber Nationalstaat, Ökonomie und Militär das allgemeine Interesse zu vertreten und durchzusetzen[160].
Wie verhält es sich nun mit dem 'ideologischen Schein'? Woran 'zeigt' er sich, wer leidet darunter, wie soll er 'aufgehoben' werden – und reflexiv, auf sich selbst gerichtet, wie sollen kritische Theoreme, die die Existenz massenhaft auftretender 'Verblendungen' postulieren, selbst überprüft werden? Es sind die Antworten auf diese Fragen, die das wirklich Neue am Habermasschen Fetischbegriff aufzeichnen. Wäre die obengenannte Frage an Lukács gestellt worden, dann wäre die Antwort wie folgt ausgefallen: zwischen den Mitgliedern unterschiedlicher Klassen herrscht, ob sie es wissen oder nicht, ein nur von der Warenproduktion her erklärbarer objektiver Interessengegensatz, der jeden ungezwungenen Konsensus, jede 'herrschaftsfreie' Kommunikation zunichte machen muß. Lukács geht nämlich davon aus, daß der objektive Geschichtsprozeß dem Einzelsubjekt einen (nicht einmal bewußt erlebten) klassenspezifischen Erfahrungshorizont aufgestülpt hat, der, wie das Kantische 'Apriori', die Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung schon von vornherein festgelegt hat: die Reflexionsleistungen des Einzelnen sollen ihm u.U. den Blick für die dem ideologischen Schein zugrundeliegenden objektiven Gegensätze freilegen (um damit eine subjektive, neurosenartige 'Verblendung' loszuwerden); sie können aber niemals den Klassengegensatz selbst aufheben[161].
Wird diese Argumentation in die Wissenschaftstheorie übertragen, dann kommt das ins Blickfeld, was Habermas bis etwa 1970 vor Augen gestanden haben muß: jener im Wissenschaftssystem auftretende hartnäckige Typus von methodologischen Kontroversen, die über Jahrzehnte hinweg nie ihre Brisanz verlieren, müssen analog zu Klassengegensätzen gedacht werden[162]. Die These lautet etwa: der alte Materialismus/ Idealismus–Streit, der selbst in der Philosophie nie geschlichtet wurde, ist um so unversöhnlicher geworden, als er sich jetzt über mehrere Fachbereiche zerstreut hat und nun innerhalb der Einzelwissenschaften mit viel primitiveren Mitteln ausgefochten wird, als sie einmal der Philosophie zur Verfügung standen. Einerseits sind Psychologie, Soziologie, Linguistik, Ökonomie, Geschichte, Anthropologie und Literaturwissenschaft Beispiele für Disziplinen, die seit eh und je darüber zerstritten sind, ob der Objektivität der Erkenntnis besser mit einer naturwissenschaftlichen oder hermeneutisch–dialektischen 'Methodologie' zu dienen wäre; andererseits ist es bisher – von Ansätzen in der Psychoanalyse und Evolutionstheorie abgesehen – einer Einzelwissenschaft noch nicht gelungen, jenen Grad der Allgemeinheit zu erreichen, den die Philosophie einmal inne hatte und den sie dann entweder kontemplativ aushöhlte oder aktionistisch verspielte. Der ideologieartige 'Schein' zeigt sich u.a. in der gängigen Überzeugung, daß die sogenannte methodologische Grundlagenforschung in den Sozialwissenschaften argumentativ (im üblichen Sinne, d.h. intentio recta) entscheidbar ist; die fortschreitende Verwissenschaftlichung aller Bereiche beweist aber nicht – wofür der Positivismus sie hält – die Superiorität der naturwissenschaftlichen Methode, sondern daß diese weiterhin jene Vorteile aufweist, denen sie seit etwa dem siebzehnten Jahrhundert ihren Sieg über gattungsgeschichtlich ältere Weltbilder verdankt: sie ermöglicht das Reflexivwerden der Produktivkräfteentfaltung und verschleiert gleichzeitig, daß die ungeheueren Mächte, die damit entfesselt wurden, bloß neuen Machthabern zugute gekommen sind[163]. Die Redewendung 'das Reflexivwerden der Produktivkräfteentwicklung' signalisiert schon jenen qualitativ anderen Objektivitätsbegriff, einen emphatischen Vernunftsbegriff, der Habermas seit langem vor Augen steht und der sich von herkömmlichen Wahrheitstheorien radikal abhebt[164]. Normalerweise glaubt der Sozialwissenschaftler nämlich (z.B. bei der Entscheidung über die Angemessenheit von naturwissenschaftlichen bzw. hermeneutischen Methodologien in der Psychologie, Soziologie, Historiographie, Ökonomie oder anderen Bereichen), ohne die Inanspruchnahme jenes Theorietypus auskommen zu können, dessen Anspruch es ist, das Nichtzustandekommen eines Konsensus reflexiv (d.h. mit expliziter Bezugnahme auf sonst unproblematisierte Randbedingungen wissenschaftlicher Diskurse, und zwar die schon durchlaufenen Sozialisationsprozesse der Beteiligten) aufzuklären. Eben darin sieht Habermas jenen 'objektiven Schein', der nur von einer das Erbe der großen Geschichtsphilosophie antretenden Theorie der verzerrten Kommunikation durchdrungen werden kann, die ihrerseits so allgemein angelegt sein muß, daß (wie Hegel es einmal erhoffte) die jeweils in Wissenschaft, Hermeneutik und Ästhetik kanonisierten Wahrheitskriterien ihrer Begrenztheit überführt werden können. Das wohlbekannte Ausbleiben eines Konsensus zwischen naturwissenschaftlich bzw. psychoanalytisch ausgebildeten Psychologen über für die Forschungspraxis so entscheidende Fragen wie z.B. Prozeduren der Hypothesenüberprüfung oder den logischen Aufbau von Theorien (um nur dieses Paradebeispiel eines Phänomens zu nennen, das sich samt seiner lähmenden Auswirkung, in beliebigen anderen Disziplinen zeigen läßt), führt Habermas auf klassengegensatzähnliche Differenzen zurück, die so fundamental sind, daß sie diskursiv überhaupt nicht mehr entscheidbar, sondern in ihrer Unversöhnlichkeit nur noch nach dem Modell des Aufeinanderprallens von unterschiedlichen Sozialisationsprozessen (d.h. genetisch) verstanden werden können; hier eher als im politischen Bereich, sollen jene Interaktionsstrukturen herrschen, für die einmal die Begrifflichkeit des 'objektiven Widerspruchs' konzipiert wurde.
Trifft diese Deutung des Habermasschen Interessenbegriffs zu, dann sieht der darin implizierte Fetischbegriff so aus: Wahr an den z.B. von dem Behaviouristen und dem (hermeneutisch geschulten) Psychoanalytiker jeweils internalisierten und affektiv besetzten Begrifflichkeiten ist, daß sie »Grundeinstellungen zur Welt« sind, die ihrer kategorialen Struktur nach (d.h. formal) universalisierbare Interessen an technischer Manipulierbarkeit und an gewaltfreien Prozessen der sozialen Integration ausdrücken; insofern können diese Begrifflichkeiten als 'Weltbilder' gedeutet werden, die den Ethnozentrismus von bloß partikularen Kulturen dahingehend überwunden haben, als sie nur noch die Akkumulation eines der Gattung als solcher zugute kommenden Wissens als legitim zulassen. Unwahr an jenen Begrifflichkeiten ist dann, diesem Fetischbegriff zufolge, daß die kontemplative Jenseitigkeit des traditionellen Idealismus beide Kontrahenten so in ihrem wahren Praxisbezug verblendet, daß sie sich zu ihrem schicksalhaften Eingebettetsein in die Institutionen des Nationalstaates nur naiv verhalten, ja dieses gar nicht zum Bewußtsein bringen können. Weil sie ihre reale Funktion im Evolutionsprozeß nicht verstehen, sehen sie beides nicht: die Gründe für die andauernde, nie mit erkenntnistheoretischer Stringenz geführte, die Realgeschichte ausblendende und deshalb prinzipiell unschlichtbare Kontroverse zwischen ihnen und jenem objektiven Krisenzusammenhang, dessen Produkt und Ursache sie selbst sind[165].
Zugespitzt formuliert: der reale Praxisbezug von Naturwissenschaft und Hermeneutik ist eine Welt ohne Armut und Krieg; solange Naturwissenschaftler und Hermeneutiker sich an diesem materialistischen Freiheitsbegriff nicht orientieren können, ist jede Methodendebatte, die es ablehnt, in der reflexiven Einstellung den objektiven Funktionen von objektivierenden und verstehenden »Grundeinstellungen zur Welt« im Evolutionsprozeß nachzugehen, dazu verdammt, abstrakt und erfolgslos zu bleiben. Als einzige Alternative bleibt dann jene traditionelle Haltung übrig, die auf der »Wahrheit« von experimentellen bzw. hermeneutischen Methoden (oder der 'Authentizität' von Kunstwerken) nur noch dogmatisch und formal insistieren kann – fetischisiertes und sinnentleertes Produkt einer Haltung, die einmal Befreiung bedeutete.
Träfe diese Deutung des Habermasschen Interessen– und Fetischbegriffes zu, dann wirft sie ein neues Licht auf das Verhältnis von Evolutionstheorie und Politischer Ökonomie. Wie die Politische Ökonomie, so geht auch die Evolutionstheorie von einem realgeschichtlichen Prozeß aus, der substantieller ist als dessen geistiger Abhub, nämlich die jeweils in Wissenschaft, Hermeneutik und Kunst formalisierten Wahrheitsbegriffe. Insofern ist der Basis/Überbau–Unterschied hier weiterhin erkennbar geblieben.
Der Widerspruchsbegriff ist aber differenzierter gefaßt als bei Marx. Nach Marx wird das Subjekt den Widerspruch gewahr, indem es den platonischen Schein des durch die »bürgerliche« Ökonomie angebotenen Wissens nach der »tätigen Seite« hin[166] durchschaut: was dem naiven, der Suggestion verfallenen Beobachter als objektiv–gültig erscheint, entpuppt sich auf der reflektierteren Stufe des Wissens buchstäblich als Schein, d.h. als die Klassenideologie eines hinsichtlich der Realgeschichte blinden Pseudo–Individuums.
Bei Habermas, der sich nunmehr auf Freud und die Sozialisationstheorie stützen kann, ist dieser Gedanke differenzierter geworden. Was in der philosophischen Sprache »Platonismus« heißt, erfahren wir innerwissenschaftlich, nach Habermas in den unschlichtbaren methodologischen Kontroversen zwischen Naturwissenschaft, Hermeneutik und Kunst; eine Unschlichtbarkeit, die darin begründet ist, daß jeder dieser »Diskurstypen« anthropologisch universalen Funktionen dient, deren wir uns reflexiv vergewissern, deren faktische Gegebenheit wir aber – anders als die Wahrheit eines Argumentes – nicht leugnen können. Technische Verfügungsgewalt über Objekte, Prozesse der sozialen Integration und Prozesse des Wissenstransfers zwischen den Generationen sind anthropologische Funktionen, die von dieser Spezies der Gattung Mensch ausgeführt werden müssen; sie geben Bedingungen der Möglichkeit des Überlebens an, die wir verstehen, deren Gewalt wir bis in die Wissenschaftstheorie hinein verfolgen, aber niemals werden ändern können: denn sie legen das formale Rahmenwerk der möglichen Argumentation fest, ohne selbst argumentativ begründbar zu sein[167].
Der Wissenschaftler, Hermeneutiker und Künstler hat jeweils einen dieser Naturzwänge internalisiert und vergeistigt; durch den arbeitsteilig organisierten Bildungsprozeß hindurch ist aus erster Natur eine 'zweite' Natur geworden, nämlich Ich–Strukturen, die sich insofern an traditionelle Ideale halten, als sie in der Identifikation mit wahren Theorien, einsichtigen Interpretationen oder schöner Kunst ihren Halt finden; von den diesseitigen, höchst handfesten gesellschaftlichen Resultaten dieser Wissensprodukte aber abstrahieren sie. Für die traditionelle Theorie, unbewußt den Interessen des Nationalstaats, Kapitals und Militärs dienend, ist jene Dimension, in der Erkenntnisinteressen thematisiert werden, tabu. Die Gründe dafür sind psychisch und objektiv zugleich.
Psychisch, weil die traditionelle Theorie unentwegt geistige Attitüden reproduziert, die auf die klassischen Ursprünge der Theorie überhaupt zurückgehen[168]; das theoretisch–kontemplative, anschauende Verhalten, das auf der Stufe der griechischen Philosophie einmal die Befreiung von den älteren Kultpraktiken bedeutete, dient auf der heutigen Stufe der Gattungsentwicklung nur noch dazu, dem Gewissen einzureden, die Wissenschaften seien für die kommenden Katastrophen nicht zuständig.
Objektiv bleibt die Thematisierung von Erkenntnisinteressen tabu, weil die durch Wissenschaft und Technik maßlos gesteigerte weltliche Macht das Prinzip der diskursiven Begründbarkeit aller Normen – einschließlich Normen der Wissenschaftspraxis – als eine radikale Attacke auf Herrschaft und Privileg empfinden muß.
Der Kontrast zu Marx wird aus diesen Bemerkungen ersichtlich. Der philosophisch aufgeklärte, bürgerliche Gelehrte, den falschen Platonismus seiner eigenen Lehre durchschauend, geht nach Marx neue Identifikationen ein mit jenem geschichtlichen Subjekt, dessen Mission es ist, das in die Welt zu 'setzen', was der Gelehrte nur der Idee nach (nicht real) verkörpert: die mit sich selbst versöhnte Gesellschaft. Diese Einstellungsänderung auf Seite des Intellektuellen und Ökonomen, die Marx als notwendiges Endresultat der philosophischen (Selbst–)Kritik und Aufklärung auffaßt, ist bis in die Doppeldeutigkeit des Dialektikbegriffs hinein mit der bekannten Annahme verbunden, das Proletariat sei objektiv imstande, seine realgeschichtliche Mission zu erfüllen.
Diese beiden Momente (philosophische Selbstkritik, Geschichtswissenschaft) sind nun bei Habermas auseinandergetreten. Die Spitze der Idealismuskritik wendet sich nicht länger gegen das bürgerliche Klassenbewußtsein, sondern gegen das, was bei Marx eher neutral erscheint: gegen Naturwissenschaft und Technik. Gleichzeitig verliert die Geschichtsphilosophie ihre teleologischen Reste: die Evolution der Gattung ist kontingent, gehorcht keineswegs einem Automatismus, der den Sieg einer bestimmten Klasse geschichtslogisch garantieren könnte. Das Reale ist nicht länger, wie der Marxsche Proletariatsbegriff es noch suggeriert, das Wahre; wenn irgendetwas in der empirischen Welt die Macht hat, das Reich der Freiheit hervorzubringen, dann ist es nicht die Arbeiterbewegung.
Was kann es dann aber noch heißen an der Ideologiekritik, an der Idee eines gemeinsamen Befreiungskampfes festzuhalten in einer Welt, in der die Verwirklichung der Philosophie nie illusionärer hätte erscheinen können als im Zeitalter der Massenvernichtungswaffen? Wenn das geschichtliche Subjekt und sein verdinglichtes (aber aufhebbares) Selbstbewußtsein nicht länger dort aufzusuchen ist, wo Marx es vermutet, dann gibt es eine andere Möglichkeit: das Wissenschaftssystem selbst. Der Gedanke lautet: vielleicht sollte die Hegelsche Phänomenologie und Geschichtslogik nicht auf die Arbeiterbewegung angewandt werden, sondern auf das Wissenschaftssystem. Auch es kann nach denselben zwei Seiten hin untersucht werden, nach denen mit der Marxschen Methode alle sozialen Klassen untersucht werden sollen: auch das Wissenschaftssystem hat eine faktische Realgeschichte und ein intern widersprüchliches Selbstbewußtsein. Auch es ist im Sinne der Dialektik Subjekt und Objekt zugleich, ist in den realen Reproduktionszusammenhang der Spezies eingespannt, ohne es zu wissen und hat aus diesem Wissen heraus sein Selbstbewußtsein noch zu gewinnen. Auch nach Habermas geht der philosophisch aufgeklärte, das Zerrissensein seiner eigenen Existenz durchschauende Gelehrte neue Identifikationen ein; nicht mit dem 'Proletariat', sondern mit jenen neuen sozialen Bewegungen, die auf Gefahren reagieren, die die Gattung als solche bedrohen: Umweltzerstörung, Atomkrieg, Bevölkerungsexplosion.
II 1. Habermas' »Literaturbericht zur philosophischen Diskussion um Marx und den Marxismus« von 1957
»Das Erste der Philosophen erhebt totalen Anspruch: es sei unvermittelt, unmittelbar. Damit es dem eigenen Begriff genüge, wären immer erst die Vermittlungen gleichsam als Zutaten des Gedankens zu beseitigen und das Erste als irreduktibles an sich herauszuschälen. Aber ein jegliches Prinzip, auf welches Philosophie als auf ihr erstes reflektieren kann, muß allgemein sein, wenn es nicht seiner Zufälligkeit überführt werden will. Und ein jegliches allgemeines Prinzip eines Ersten [...] enthält in sich Abstraktion.«
Mit diesem Zitat (Adornos Zur Metakritik der Erkenntnistheorie entnommen[169]) leitet Habermas den Kerngedanken seiner 1957 erschienenen, den bescheidenen Titel eines »Literaturbericht(es) zur philosophischen Diskussion um Marx und den Marxismus« führenden, ersten[170] Auseinandersetzung mit dem Marxismus ein. Der komplexe Gedankengang, der mit diesem Zitat erörtert wird, ist einer, der ihn nun seit dreißig Jahren unablässig beschäftigt hat; im Kern lautet er: eine systematische Philosophie, die die Ansprüche des deutschen Idealismus einlösen will, ist im 20. Jahrhundert nur noch in der paradoxen Gestalt einer schonungslosen, mit philosophischen Mitteln rigoros durchgeführten Selbstkritik möglich. Für den Habermas der fünfziger Jahre, die unheilvollen Vorgänge der Nachkriegsrestauration beobachtend[171], ist diese These noch im Sinne des 'Pariser Marx' zu verstehen: der Mensch ist entfremdet, subjektiv und objektiv. Zwar ist die traditionelle Philosophie der einzige Ort, an dem diese Entfremdung überhaupt zum Bewußtsein gelangen kann, andererseits zeigt sich diese Entfremdung aber darin, daß die (»Ursprungs«–)Philosophie eben glaubt, diese Entfremdung intern – in der Philosophie (d.h. gedanklich, »bloß« subjektiv) – aufheben zu können:
»Wer den Marxismus immanent daraufhin prüfen will, wieweit sein Ansatz zur Lösung auch der klassischen philosophischen Probleme taugt, hat diese These von der Verwirklichung der Philosophie durch ihre Aufhebung als Philosophie oder, wie es bereits die Dissertation formulierte, die These vom Philosophischwerden der Welt durch das Weltlichwerden der Philosophie ernstzunehmen, ja er muß von ihr als der Schlüsselthese ausgehen.«[172]
Die Erfahrung, die den Fachphilosophen Habermas (Promotionsthema: Schelling[173]) dazu bewegt, dieses paradoxe Motiv einer selbst–kritischen Philosophie aufzunehmen und zunächst Marx–immanent zu verfolgen, ist eine durchaus politische: Heidegger, in dessen Philosophie auch der junge Habermas gelebt hat, (Sein und Zeit ist »das bedeutendste philosophische Ereignis seit Hegels 'Phänomenologie'«[174]) sieht keinen Grund bei der Wiederveröffentlichung (1953) von Vorlesungen aus dem Jahre 1935 den Satz, der die »innere Wahrheit und Größe des Nationalsozialismus« bezeugt[175], zu ändern oder zu kommentieren. Es ist dies der konkrete Anlaß, der den jungen Habermas zu Überlegungen über »Heideggers Faschismus«[176] und das »Problem der faschistischen Intelligenz«[177] führt:
»Bis zum Erscheinen der Heideggerschen Einführung in die Metaphysik, das war 1953, waren meine politischen und meine philosophischen Konfessionen – wenn Sie so wollen – zwei völlig verschiedene Dinge. Es waren zwei Universen, die sich kaum berührten. Dann habe ich gesehen, daß Heidegger, in dessen Philosophie ich gelebt habe, 1935 diese Vorlesung gehalten hat und sie ohne ein Wort der Erklärung – das war das, was mich eigentlich erschüttert hat – veröffentlichte. [...] Etwa um dieselbe Zeit habe ich übrigens Lukács' Geschichte und Klassenbewußtsein gelesen, was mich sehr aufgeregt hat. [...] Ich dachte, wie schade, daß man diese Motive systematisch nicht wiederbeleben kann. Ich war einerseits fasziniert, und andererseits wußte ich, das kann man heute nicht mehr so machen.«[178] »Ich bin während meiner Studienzeit darauf gestoßen, daß so eminente, für die Nachkriegsgeneration prägende Figuren wie Martin Heidegger oder Carl Schmitt erstaunliche politische Äußerungen getan und fatale Lehren vertreten hatten: der eine hat als Rektor die Machtergreifung der Nazis begrüßt und ihre Bedeutung metaphysisch verklärt, der andere hat den Führerstaat theoretisch gerechtfertigt. Keiner von beiden hat nachher eine unzweideutige politische Erklärung, eine öffentliche Revision für nötig gehalten. Diese schockierenden Beispiele [...] haben unser Bewußtsein dafür geschärft, daß die theoretischen Dinge, die man lehrt und schreibt, nicht nur als Argumente in den Wissenschaftsprozeß eingehen und dort überleben oder zerrieben werden, daß sie vielmehr als gesprochene und publizierte Worte im Augenblick der Rezeption eine Wirkung auf die Mentalität von Hörern und Lesern haben, die der Autor nicht rückgängig machen, nicht wie ein Argument zurückziehen kann.«[179]
Diese Zitate verdeutlichen, in welchem Zusammenhang Habermas Anschluß an den 'jungen' Marx sucht. Ist die traditionelle (d.h. für ihn: der bürgerlichen Arbeitsteilung gehorchende, kontemplativ ausgerichte, jede politische Realität ignorierende) Philosophie selbst schuld an einer schlechten Realität[180], oder ist die »Weltabgewandtheit« der Theorie sogar als Flucht vor einer unangenehmen Realität zu verstehen, dann muß fortan gelten: die Theorie, die die Praxis beeinflußt und selbst wiederum aus der Praxis ihre Anstöße bekommt, muß in ihrer »Einheit« untersucht werden. Dies macht das Hauptanliegen des »Literaturberichts« verständlich:
1. Die ursprünglichen Intentionen und Absichten einer auf Selbstbegründung verzichtenden (eben: 'kritischen') Philosophie sollen vor existentiellen, ontologischen, gar theologischen Stilisierungen des »Materialismus« gerettet respektive wieder davon freigelegt werden;
2. Ein Praxisbegriff – jenseits des »grundsätzliche(n) Diskussionen längst entzogene(n) und im innersten leblosen Kanon(s) des Diamat«[181] – soll rehabilitiert werden, der sich nicht auf eine »verballhornte Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen«[182] reduzieren, ebensowenig aber als »geistesgeschichtliches Problem unter anderen«[183] akademisieren läßt; geht es doch letztendlich um die Frage, was jenseits von allem Moralismus eine unabhängige Linke rational motivieren könnte.
Beide Motive erklären sich aus der »Befürchtung, daß ein wirklicher Bruch (mit der Zeit des Faschismus – F.v.G.) nicht stattgefunden hat«[184]; und aus der Grundüberzeugung, daß moderne Gesellschaften einer unheilvollen Eigendynamik ausgesetzt sind, die bis in die Gegenwart hinein ihr Unwesen treibt. Verfolgen wir diese beiden Argumente.
II.1.1 Aufhebung der Philosophie durch Praxis
Was vom Standpunkt der Schulphilosophie aus den Übergang zur Theorie/Praxis–Problematik erzwingt, ist die Schlüssigkeit eines Argumentes, das von Marx gegen Hegel benutzt und neunzig Jahre später von Lukács erneuert wurde; Habermas macht sich diese Argumentation zu eigen. Das kategoriale Rahmenwerk, das allen unseren Erfahrungen vorausgeht und sie erst 'konstituiert' – vom deutschen Idealismus als Frage nach den a priori 'Bedingungen der Möglichkeit des Wissens' als neuzeitliches philosophisches Problem par excellence etabliert – läßt sich nicht (kantisch) mit Bezug auf die Eigenschaften eines transzendentalen Subjekts erklären: seit Feuerbach wird die Transzendentalphilosophie, sowie jeder Versuch, der darauf hinausläuft, die Konstitutionstheorie ahistorisch, als Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung oder als eine »Logik des absoluten Bewußtseins«[185] aufzufassen, der Hypostasierung verdächtigt. Ignoriert werden kann die Konstitutionstheorie andererseits nur um den Preis des Rückfalls in einen naiven Sensualismus oder eine 'Abbildtheorie':
»Wenn beides, sowohl die historische Kontingenz des 'Sinnes' als auch die empirische Kontrolle seiner Feststellung, ernstgenommen werden soll, kann aus der Aporie, in die eine Geschichtsphilosophie auf dem Wege einer Ontologie der Geschichtlichkeit des Menschen führt, nur eine andere 'Kehre' herausführen; nämlich die Erkenntnis des 'Materialismus', daß auch die transzendental analysierten existentialen Strukturen selber noch vom realen geschichtlichen Prozeß, statt ihm voranzugehen, bestimmt werden. Auch die Geschichtlichkeit ist noch Produkt der Geschichte selber, und zwar der realen Geschichte, die bei Kant auf die Seite der Erscheinung, bei Hegel auf die des Besonderen, bei Heidegger auf die des Seienden geschlagen wird, in der Meinung, daß sie der Begründung durch Philosophie bedürfe.«[186]
Wenn die Befugnisse, mit denen Kant das 'Bewußtsein überhaupt' ausstattet, auf die Realgeschichte übertragen werden – wenn sie m.a.W. analog zu 'Projektionen' im psychoanalytischen Sinne verstanden werden sollen – dann muß der Vorgang der 'philosophischen Begründung' neu durchdacht werden; wenn die Philosophie nicht mehr ihren 'letzten' Sinn in einer erkenntnistheoretischen Analyse 'unseres' Wissens haben kann, wenn selbst das Wissen um die 'Gesetze der reinen Vernunft' selber durch einen realgeschichtlichen Prozeß 'vermittelt' wurde, dann ist die Philosophie gezwungen, sich selbst anders aufzufassen, sich selbst auf eine neuartige Weise zu thematisieren und zu hinterfragen:
»Daraus folgt, daß Philosophie auf Selbstbegründung verzichten und erkennen muß, wie und wieweit sie durch ein anderes, das sie freilich auch ist, gegründet wird – durch gesellschaftliche Praxis. Zweitens kann der Sinn der Geschichte, den Philosophie als ihren eigenen versteht, nicht mehr durch Reflexion allein, nicht mehr im Medium der Philosophie verwirklicht werden, so sehr sie auch Voraussetzung der Verwirklichung bleibt. Denn sowohl der Ansatz bei einem praktischen Sinn, der sich reiner Kontemplation nicht vollständig erschließt, als auch die Erkenntnis, daß Philosophie sich selber als Teil der Geschichte begreifen muß, ohne doch als solche deren Subjekt sein zu können, verweist die Philosophie über sich selbst hinaus auf Praxis. Daraus folgt, daß sie auf Selbsterfüllung verzichten muß. Und beides meint der 'Materialismus' der materialistischen Dialektik: in der Erkenntnis, daß sie weder ihres Ursprungs noch der Verwirklichung ihrer eigenen Idee mächtig ist, hört sie auf, prima philosophia zu sein; in doppeltem Verzicht auf Selbstbegründung und Selbsterfüllung gewinnt sie ihr Selbstbewußtsein; und als solche nennt Marx sie Kritik. Zugleich verändert sie den Sinn ihres Fragens von Grund auf. Theorie wird nicht mehr in ontologischer, sondern nur mehr in praktischer Absicht betrieben. Grundfrage ist nicht mehr: warum ist Sein (und Seiendes) und nicht vielmehr nichts?, sondern: warum ist Seiendes so und nicht vielmehr anders? Kritik läßt sich allein von daher in Anspruch nehmen und bewegen. Unter Voraussetzung eines 'Materialismus' in diesem Sinne scheinen sich die Bedingungen der Möglichkeit einer empirisch gesicherten Geschichtsphilosophie klären zu lassen. Der Sinn der Geschichte, den sie zu gewinnen sich anheischig macht, ist – gegenüber den theologischen und spekulativen Verfahren – kontingent, gegenüber dem seinsgeschichtlichen Versuch historisch insofern, als die transzendentale Ableitung selber historisch relativiert wird: die Strukturen der entfremdeten Arbeit sind auf eine reale geschichtliche Situation relativ, und nicht auf ein wie immer 'vernommenes' metahistorisches Seinsgeschick. Und zwar ist die philosophische Feststellung des 'Sinnes' historisch überprüfbar, ja, ohne historisch–soziologische Analysen, die den faktischen Geschichtsprozeß allererst 'geben', sinnlos. Daher hat der historisch–materialistische Ansatz gegenüber dem pragmatischen i.e.S. den Vorteil, die Kategorien, unter den das empirisch ermittelte Material gedeutet wird, als solche ausweisen und entwickeln zu können.«[187]
Verfolgt man die Nuancierungen in den Begriffen »gesellschaftliche Praxis«, »Kritik«, »Theorie«, »Realdialektik« und »praktische Absicht«, dann fällt auf, daß Habermas hier schon, d.h. bereits während der fünfziger Jahre, diese komplexe »Theorie/Praxis«–Problematik nicht nur Marx–immanent aufnimmt, sondern sie auch gegen Marx wendet. Ich versuche, dieses Argument wiederzugeben.
Daß Gegenstände nicht restlos in ihren Begriffen aufgehen, ist die zentrale Einsicht, die die neuzeitliche Philosophie von Hume bis Hegel inspiriert hat; deren spezifischer und immer noch aktueller Verdienst – vor allem des Deutschen Idealismus – war es, gegen die vorkritische Ontologie den verbindlichen Nachweis zu führen, daß jede Lehre von ansichseienden Objekten, jede Version von intuitivem Wissen, »common sense knowledge« oder objektivem (von Subjekten unabhängigen) Sinn unhaltbar ist. Deshalb hat jene Dimension, in der dieser Nachweis geführt wird (und der für die Wissenschaftsmethodologie bestenfalls ein Kuriosum geblieben ist), nie ihre Aktualität verloren: wer dem modernen Positivismus und Nominalismus nicht schutzlos ausgeliefert sein will, hat keine andere Wahl, als sich dem Exerzitium der Konstitutionstheorie, Subjekt/Objekt–Philosophie und Dialektik zu beugen. Allerdings ist jene Tradition, die der Subjekt/Objekt–Problematik gewahr wurde, selber antinomisch. Der Objektive Idealismus sieht zwar, daß jeder Erkenntnisakt von etwas Realem vermittelt wird, und »setzt« – hier dem Scholastizismus wie zuvor weit überlegen – das Objektiv–Vermitteltsein anstelle der dogmatischen Gewißheit; hält aber andererseits vor jener Einsicht inne, die den Übergang zur eigentlichen Theorie/Praxis–Problematik erzwingt: auch die Philosophie insgesamt ist geschichtlich vermittelt, auch sie ist Produkt einer bestimmten Gesellschaftsordnung, auch ihr Selbstverständnis ein Stück Mythos[188]. So aufgefaßt, ist das Hauptanliegen einer materialistisch gewordenen Dialektik in erster Linie eine Kritik an der Philosophie – ein Projekt, das nicht gerade dadurch erleichtert wird, daß die traditionelle Philosophie, ihrem eigenen (falschen) Grundsatz folgend, dies notwendigerweise als eine Philosophie der Kritik interpretieren muß:
»Was aber heißt im Hinblick auf den Gang der Geschichte sinnvoll Dialektik, wenn sie nicht als die Logik eines absoluten Subjekts transzendental ausgewiesen werden kann; was heißt, mit einem Wort, materialistische Dialektik? Bevor wir auf diese Frage eingehen, ist zu zeigen, wie sie von philosophischen Interpreten des Marxismus verfehlt wird; diese reduzieren Marx so sehr auf Hegel, daß für sie hernach die berühmte Umkehrung der Dialektik 'vom Kopf auf die Füße' als Problem im Ernst nicht mehr auftaucht.«[189]
Fragt man nach den Konsequenzen, die aus dieser Kritik an der Philosophie folgen, dann heißt es, eine konsequent gewordene Philosophie hebt sich in Gesellschaftskritik auf:
»Es entspricht vielmehr dem Sinn einer materialistischen Dialektik, daß Philosophie mit der Reflexion der Lage anhebt, in der sie sich vorfindet; daß sie folglich von der erfahrenen Entfremdung und dem Bewußtsein der praktischen Notwendigkeit ihrer Aufhebung ausgeht. Dieses Bewußtsein erhebt sich zum Selbstbewußtsein, wo sich Philosophie kritisch selber noch als Ausdruck eben der Lage, die aufgehoben werden soll, erkennt und fürderhin eher kritische Praxis unter das Ziel einer Kritik durch Praxis stellt. Sie weiß, daß sie in dem Maße an der Aufhebung ihrer selbst qua Philosophie arbeitet, indem sie die Verwirklichung ihres immanenten Sinnes betreibt. Eine solche Kritik verläßt, wie Marx sich ausdrückt, das Stadium der Kontemplation. Sie hat den Schein ihrer Autonomie durchschaut, der ihr stets vorgegaukelt hat: daß sie sich sowohl selber begründen als auch verwirklichen könne. 'Materialistisch' nennt Marx die Philosophie, die das falsche Bewußtsein in dieser doppelten Ansicht abgelegt hat. Einerseits ist Kritik 'praktisch' an der Aufhebung der bestehenden Lage interessiert, und ihre Bewegung läßt sie allein von diesem Interesse bestimmen: insofern ist die Revolutionstheorie die Kategorienlehre der Kritik. Andererseits erschließt jenes Interesse einen Gesichtspunkt, und nicht einen Bereich, der mit Mitteln transzendentaler Analyse aufgearbeitet werden könnte; insofern muß sich Kritik, was sie wissen will, wissenschaftlich geben lassen. Das Wissen um die 'Notwendigkeit' der Revolution dispensiert nicht von der wissenschaftlichen Untersuchung der Bedingungen ihrer Möglichkeit. Die Angewiesenheit der Kritik auf Wissenschaft, auf empirische, historische, soziologische und ökonomische Analysen, ist so unabdingbar, daß sie wissenschaftlich, und – innerhalb der Theorie – allein wissenschaftlich widerlegt werden kann. [...] wissenschaftlich feststellbaren Bedingungen der Möglichkeit einer Revolution [...]«[190].
Wer die volle Tragweite der Theorie/Praxis–Problematik, samt der unterschiedlichsten Interpretationen, die sie zehn Jahre später inspirierte, vor Augen hat, ist für Akzentuierungen sensibilisiert, die erst durch die Wirkungsgeschichte ihre Bedeutung bekommen haben: Habermas nimmt das Programm einer 'Selbstaufhebung der Philosophie und ihrer Verwirklichung durch Praxis'[191] äußerst ernst, wendet es aber gleichzeitig gegen Marx. An entscheidender Stelle beruft er sich auf Adorno; dann, nämlich, wenn es um die entscheidende Frage geht, wie der Praxisbegriff näher zu bestimmen sei. 'Philosophie sei kein Erstes' wird, den Feuerbach Thesen folgend, dahingehend interpretiert, daß auch die Philosophie nach dem Modell der Überbaulehre verstanden werden muß[192], und gleichzeitig geht er, Adorno zitierend, gegenüber Marx deutlich auf Distanz:
»Freilich liegt dem Materialismus, der der Philosophie die Bedingungen der Möglichkeit, Ursprungsphilosophie zu sein, bestreitet, nicht etwa seinerseits eine Hypostasierung im Sinne derart, daß Philosophie von gesellschaftlicher Praxis 'determiniert' würde, wie Marx mit seinem unglücklichen Bild von Überbau und Unterbau nahelegt, und Engels in der Tat behauptet hat: 'Der Geist läßt aber vom Gegebenen so wenig sich abspalten wie dieses von ihm. Beide sind kein Erstes. Daß beide wesentlich durcheinander vermittelt sind, macht beide zu Urprinzipien gleich untauglich; wollte indessen einer in solchem Vermitteltsein selber das Urprinzip entdecken, so verwechselte er einen Relations– mit einem Substanzbegriff und reklamierte als Ursprung den flatus vocis. Vermitteltheit ist keine positive Aussage über das Sein, sondern eine Anweisung für die Erkenntnis, sich nicht bei solcher Positivität zu beruhigen, eigentlich die Forderung, Dialektik konkret auszutragen. Als allgemeines Prinzip ausgesprochen, liefe sie, ganz wie bei Hegel, immer wieder auf den Geist hinaus; mit ihrem Übergang in Positivität wird sie unwahr'«[193].
Mit Marx ist Habermas fest davon überzeugt, daß eine Philosophie, die ihrem eigenen Anspruch – gar utopischem Gehalt – gerecht werden will, sich selbst als Ideologie durchschauen, ja sich als Teil eben jener »entfremdeten Praxis«[194] verstehen muß, den die bisherige Philosophie, wenn sie seiner überhaupt gewahr wurde, nur kontemplativ verklärt hat. Dies erzwingt den Übergang in eine empirisch verfahrende Gesellschaftstheorie, deren Aufgabe es nun wird, jene »reale Abstraktion«[195] ausfindig zu machen, die beides zugleich 'konstituiert': die objektive, auf immer schlimmere Krisen zusteuerende Welt, und jene ideologischen Bewußtseinsstrukturen (die Schulphilosophie und formale Soziologie eingeschlossen), die diese Welt nicht nur falsch widerspiegeln, sondern durch diese falsche Widerspiegelung hindurch auch wiederum (objektiv) jene Krise schüren, die sie subjektiv nicht wahrhaben wollen, vielleicht nicht einmal wahrhaben können[196].
Gegen Marx zählt aber ein ebenso zwingendes Argument, und wer es in allen seinen Implikationen verstanden hat, hat auch jenes Pathos verstanden, daß es einer Philosophie, die ihr Bewußtsein an dem notwendigen Übergang in die Praxis gebildet hat, verwehrt bleibt, diesen Übergang auch vollziehen zu können: »[...] wo die ökonomischen Prognosen nicht stimmen, stimmen auch die Annahmen nicht, aus denen die Prognosen abgeleitet sind«, heißt es fast lapidar[197]. Die Subjekt/Objekt–Philosophie, von der Notwendigkeit ihrer eigenen Aufhebung und Verwirklichung in und durch die Empirie überzeugt, kann sich als empirische Theorie nicht mehr behaupten; Begriffe wie 'gesellschaftliches Subjekt', 'Dialektik der Produktivkräfte und Verhältnisse', 'Tausch', 'Proletariat' und 'Klassenbewußtsein' sind trotz ihres unabstreitbaren Wahrheitsgehaltes in der Empirie so fragwürdig geblieben wie in der Politik erfolgslos. Wer im 20. Jahrhundert das Weltgeschehen verstehen will, ist wie zuvor mit sich selbst allein[198]. Habermas' Schlußbemerkung eignet sich bestens, um auch seine eigene Position zu definieren; es ist der Geist der zu Erkenntnis und Interesse, Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus und Theorie des kommunikativen Handelns führt, und er beschreibt die Gesinnung einer Kritischen Theorie, die Hegels »sichere(s) Vertrauen zum Ganzen«[199] endgültig abgestreift hat – auch in seiner marxistischen Gestalt. Fortan wird Wissenschaft als »Arbeit bei Strafe des Untergangs«[200] gelten:
»Wenn wir am Ende eine Analyse Herbert Marcuses zur Sprache bringen, dann nicht nur, um die Problematik eines Selbstbewußtseins der Menschheit unter den heutigen Umständen zu bezeichnen, sondern vor allem auch deshalb, um an einem Beispiel vorzuführen: wie der philosophische Ansatz des Historischen Materialismus im Zusammenspiel, und nur im Zusammenspiel mit empirischen Forschungen, seine Fruchtbarkeit gerade dort beweist, wo man die einzelnen Lehrstücke des Marxismus vorbehaltlos der fälligen Revision unterzieht.«[201]
Damit sind die zwei Begriffe genannt, um die sämtliche seiner späteren Arbeiten kreisen werden: Philosophie und Wissenschaft. Jede Wahrnehmung ist geschichtlich kontingent; in der Sprache der Dialektik: 'vermittelt'. Sinnvolle Aussagen bedürfen aber der empirischen Kontrolle und erst recht, wenn geschichtsphilosophische Thesen praktische Handlungen motivieren sollen, die – anders als Argumente – nicht widerrufen werden können. Habermas hat diesen Widerspruch nicht entdeckt, sondern hat ihn aus der Zeitschrift für Sozialforschung übernommen; er spricht aus, was die Kritische Theorie von Marx scheidet. Auch für die Frankfurter Schule der dreißiger Jahre lieferte Das Kapital nicht mehr das verbindliche Beispiel dafür, wie philosophische Kritik und empirische Analysen miteinander zusammenzufügen sind[202].
Anders als Horkheimer und Adorno sieht er aber in Darwin, Wittgenstein, Searle, Chomsky, Weber und Parsons die Möglichkeit, diesen Widerspruch ohne jene Rehegelianisierung zu entfalten, die die Negative Dialektik zum ohnmächtigen Protest verurteilt hatte und die wie nie zuvor einer breiteren Rezeption des dialektischen Gedankens im Wege steht; und er vermutet in der System– und Kommunikationstheorie zudem eine Begrifflichkeit, die selbst dem noch zur Sprache verhelfen kann, was in der Dialektik der Aufklärung noch keine finden konnte[203].
Um diesem Gedankengang folgen zu können, muß aber erst auf den anderen Impuls eingegangen werden, mit dem sich Habermas während der fünfziger Jahre beschäftigte, denn seine Studienjahre standen nicht nur im Zeichen von Lukács, Marx, Horkheimer und Adorno, sondern er widmete sich auch Scheler, Plessner, Rothacker und Darwin.
II.2 Der andere Impuls: Darwin – oder über das heilsame Eingedenken der Tierähnlichkeit
Der »Literaturbericht[...]« von 1957 ist kein systematisches Werk; seine Bedeutung liegt darin, daß es Habermas' ersten Versuch darstellt, Anregungen aus den unterschiedlichsten Richtungen – politische, geistige, philosophische, zeitgeschichtliche, wissenschaftliche – auf einen Nenner zu bringen. Die Themen aus den sechziger Jahren sind zum Teil schon vorweggenommen[204], dafür aber noch spekulativ und unverbindlich; sie erinnern daran, daß Philosophie Resultat ist, nicht Ausgangspunkt. Der eigentliche Stachel aber ist dieses: Hegel und Marx reichen nicht aus, das 20. Jahrhundert auf den Begriff zu bringen. Deshalb plakatiert Habermas nicht mit Begriffen, sondern benutzt noch die abstraktesten, um einer geschichtlichen Erfahrung zum Ausdruck zu verhelfen. Heidegger, Schelling, Plessner und Gehlen, Jaspers, Kierkegaard, Freud und von Weizsäcker; Triebschicksal, Kunst, Wiederaufrüstung, nationalsozialistisches Deutschland, Metaphysik, Sprache, Primatengesellschaften – Namen und Themen, die er erst mit und dann unabhängig vom überlieferten Dialektikbegriff rezipiert und verarbeitet. Politische Ereignisse, wissenschaftliche Ergebnisse, ästhetische Strömungen, die nicht unbegriffen hingenommen, aber auch nicht nach einem zu starren 'Theorie/Praxis'–Modell abgefertigt werden; das macht ihn nicht nur zum sensiblen Beobachter der Nachkriegsrestauration, sondern auch zum lebendigen Beweis dafür, daß 'Einheit der Vernunft' kein Seminarrätsel bleiben muß.
In der »Philosophischen Anthropologie«, ein Jahr nach dem »Literaturbericht [...]« als Lexikonartikel veröffentlicht, kommt der andere maßgebende Einfluß aus den Jugendjahren zum Ausdruck; wer Erkenntnis und Interesse verstehen will, muß sich mit diesem Artikel befassen[205]. Er sieht, in der Philosophischen Anthropologie, eine heilsame Korrektur gegenüber der identitätsphilosophischen Prämisse der dialektischen Tradition; hier herrscht schon von vornherein ein Philosophiebegriff, der sich keineswegs dazu berufen fühlt, die Einzelwissenschaften transzendental oder geschichtsphilosophisch 'begründen' zu müssen, sondern eher umgekehrt: er wartet auf Fortschritte in den Einzelwissenschaften und läßt sich von diesen leiten:
»Die philosophische Anthropologie ist, ähnlich der modernen Naturphilosophie (in Gestalt einer Theorie des Lebens) und der modernen Geschichtsphilosophie (in Gestalt einer Theorie der Gesellschaft), nicht etwa eine wissenschaftliche Ausgliederung aus dem Verband der Philosophie, sondern umgekehrt eine Reaktion der Philosophie auf jene herangereiften Wissenschaften, die ihr Gegenstand und Anspruch streitig machen. Solche reaktiven philosophischen Disziplinen treiben nicht mehr das Geschäft der prima philosophia: sie begründen die Wissenschaften nicht mehr, sie verarbeiten sie; sie lassen Wissenschaften nicht mehr 'entspringen', sie müssen sie sich 'geben' lassen. Philosophische Anthropologie stellt nicht mehr den Anspruch, 'fundamental' zu sein«[206].
Instinktschwäche, Organprimitivität, Triebüberschuß, Frühgeburt, Sprache, Werkzeuggebrauch, aufrechter Gang, Greifhand, Entwicklung des Großhirns, 'Weltoffenheit': biologische Merkmale des Menschen, an denen die breite Literatur der philosophischen Anthropologie versucht hat, den Übergang von Natur zu Kultur näher zu bestimmen.
Sind diese Begriffe einmal genannt, dann wird klar, daß die Philosophische Anthropologie die Frage nach dem 'Wesen des Menschen' nicht religiös und nicht ontologisch meint: sie stellt sie nicht, um durch sie hindurch zu Gott zu gelangen und zielt auch nicht auf jenes Sein, das alles Seiende begründen soll. Sie meint die Frage real. Unter 'Menschwerdungsprozeß' hat sie jenen rätselhaften Prozeß vor Augen, der vor etwa drei Millionen Jahren auf diesem Planeten stattfand: vor diesem Zeitpunk kann von 'Geschichte' nur in einem sehr übertragenen Sinn gesprochen werden, nach diesem Zeitpunkt reichen anatomische Merkmale nicht mehr aus, um die Weltgeschichte erklären zu können.
Wer die Subjekt/Objekt–Dialektik von Hegel und Marx präsent hat, wird bei Begriffen wie »real«, »Menschwerdungsprozeß« und »Weltgeschichte« natürlich hellhörig, und es stellt sich dann auch heraus, daß Habermas die Philosophische Anthropologie (und das schon während der fünfziger Jahre) nicht als 'Fach', d.h. nicht als Einzelwissenschaft unter anderen abhandelt[207], sondern der weitaus allgemeineren Frage nachgeht, ob sich auf diesem Gebiet ein alternativer Dialektikbegriff gewinnen ließe. Sind die Antinomien des Marxschen Dialektikbegriffs mit Hilfe eines nichtszientistischen Darwins aufzuschlüsseln?
»Erst von den Junghegelianern, Feuerbach und Marx voran, wird ein neuer Problemboden gewonnen [gegenüber Herder, Schiller – F.v.G.]; zusammen mit Kierkegaard arbeiten sie die Situationsbezogenheit des Menschen heraus: sie erkennen, daß der Mensch die 'Welt' des Menschen ist. Feuerbach, der seine Philosophie bezeichnenderweise eine Anthropologie nennt, erfaßt den Menschen 'in seiner Existenz, in der Welt als ein Mitglied derselben, nicht im Vakuum der Abstraktion, als eine vereinzelte Monade, als einen absoluten Monarchen, als einen teilnahmslosen außerweltlichen Gott'. Der Mensch in seiner Welt ist eine endliche, und das heißt einfach eine bedürftige Existenz; weil der Mensch immer schon 'leidet', erfährt er die Wirklichkeit 'sinnlich', in Liebe und Schmerz: 'nur die Leidenschaft ist Wahrzeichen der Existenz'. Feuerbach grenzt wie Herder den Menschen vom Tiere ab: dieses ist so partikular, wie jener universell. Die Freiheit ist daher kein Vermögen für sich; sie gründet vielmehr darin, daß die menschlichen Sinne, die Organe seiner Leidenschaft, nicht wie die der Tiere mit spezifischen Bedürfnissen gekoppelt und nur mit spezifischen Dingen in Zusammenhang stehen. Marx knüpft an diese Universalität des Menschen mit der bedeutsamen Wendung an: 'Das Tier formiert immer nach dem Maß und dem Bedürfnis der Spezies, der es angehört, während der Mensch nach dem Maß jeder Spezies zu produzieren und überall das inhärente Maß den Gegenständen anzulegen weiß; der Mensch formiert daher auch nach dem Gesetz der Schönheit'. Marx indes sieht, daß der Mensch anthropologisch, in seiner sinnlich–leiblichen Existenz allein, nicht begriffen werden kann. Der Mensch ist von Natur aus gezwungen zu handeln, nämlich durch gesellschaftliche Arbeit sich am Leben zu halten; mehr noch, in dieser Arbeit erzeugt er seine Welt und sich selbst in ihr. Der Mensch ist, was er geschichtlich aus sich macht. Marx rühmt als das Große an Hegel, daß er das Wesen der Arbeit erfaßt und den wirklichen Menschen als das Resultat seiner eigenen Arbeit begriffen habe. In einer zugespitzten Formulierung bezeichnet Marx die Geschichte der Industrie (in dem allgemeinen Sinn gesellschaftlicher Arbeit überhaupt) als 'das aufgeschlagene Buch der menschlichen Wesenskräfte, die sinnlich vorliegende menschliche Psychologie'. Arbeitend verdankt der Mensch sein Dasein sich selbst, seine Geschichte ist die Geschichte seiner Arbeit.«[208]
Verfolgen wir nun, in welche Richtung Habermas diesen letzten Satz »seine Geschichte ist die Geschichte seiner Arbeit« entfaltet.
Über Scheler, Plessner, Uexküll und Gehlen arbeitet er die zwei wesentlichen Resultate der philosophischen Anthropologie heraus: Sinnesorgane, wie Uexküll einmal am Beispiel der Zecke veranschaulichte, haben im Tierreich wenig damit zu tun, was auf Humanebene 'Wahrnehmung' heißt; das Tier nimmt die Welt nicht im menschlichen Sinne 'wahr', sondern reagiert auf jene geringe Zahl von Signalen, die dazu dienen, die interne, aus instinktiven Bewegungsschemata bestehende 'Erbmotorik' auszulösen. Das Signal, das durch die Sinnesorgane von 'außen' hereinkommt und der Trieb sind aufeinander abgestimmt wie Schloß und Schlüssel: Instinkt dient der Selbsterhaltung von Individuum und Spezies, und die Sinnesorgane haben die Funktion, aus einer höchst komplexen Umwelt nur das herauszufiltern, was für das Überleben des Tieres 'relevant' ist.
Die philosophische Anthropologie hat auf Grund von Merkmalen wie diesen den Kontrast zwischen Tier und Mensch herausgearbeitet: anatomisch ist der Mensch ein, wenn nicht einmaliges, dann doch kurioses Tier, das eine Reihe von Phänomenen aufweist (Position des foramen magnum, Rückentwicklung der Körperbehaarung, plattes Gesicht, Frühgeburt, Blinddarm, u.a.m.), die alle unter das subsumiert werden können, was die Biologie »Neotenie« nennt: nämlich Unspezialisiertheit in der organischen Ausstattung, Infantilisierung, Instinktschwäche, vorzeitiger Abbruch des Wachstums und der Entwicklung. Sinnesphysiologisch ist der Mensch, hier einmalig, eigentümlich 'offen' zur 'Umwelt': Sinnesdaten dienen nicht mehr dem Auslösen von ererbten Reflexbewegungen, sondern werden als Information 'registriert' und als Erfahrung erinnert.
Was Habermas an solchen – empirisch durchaus zutreffenden – Feststellungen interessiert, ist genau das, was Marx einmal an der Politischen Ökonomie faszinierte: ist dies eine Begrifflichkeit, die Aussagen über den Geschichtsprozeß im Ganzen zuläßt? Max Scheler hat bekanntlich aus der Gegenüberstellung Instinkt/Weltoffenheit gleich das christliche Prinzip Trieb versus Geist abgeleitet; danach ließe sich der Geschichtsprozeß als eine Art Arena vorstellen, worin sich die abstrakten, übergeschichtlichen Mächte 'Leben' und 'Geist' begegnen. Der erkenntnistheoretisch geschulte Philosoph – den Idealismusvorwurf gegen Hegel präsent –, bemerkt gleich die petitio principii, die hinter solchen Konstruktionen steckt:
»[Scheler] glaubt als Subjekt der Triebhemmung, des 'konstitutionellen Neins zum Triebe', ein Prinzip einführen zu müssen, das allem Leben schlechthin entgegengesetzt ist – den Geist. Der muß sich zwar alle Macht, Kraft und Tätigkeit vom Lebensdrang geben lassen, aber er allein kann die Impulse lenken: der Geist hält gleichsam den Triebmächten Ideen vor, um sie mit Leben füllen und verwirklichen zu lassen. Als Sinn der Geschichte resultiert daraus eine gegenseitige Durchdringung des ursprünglich ohnmächtigen Geistes und des ursprünglich blinden Dranges durch die Vergeistigung der Drangsale und die Verlebendigung des Geistes. Die Sonderstellung des Menschen wird metaphysisch begründet.«[209]
Anhand von Plessner, Gehlen und Rothacker zeigt Habermas nun, daß die philosophische Anthropologie unter Begriffen wie 'Kultur' und 'Gesellschaft' das abhandelt, was Hegel einmal mit 'objektivem Geist' meinte: empirisch existente Formen der Vergesellschaftung, die für ihre Mitglieder subjektiv 'konstitutiv' sind, d.h. die sie bis in die Einzelheiten ihrer Psychologie hinein 'determinieren'. Gleichzeitig erhebt er philosophische Einwände[210]: eine Anthropologie, die zeigt, daß es auf der Humanebene die Institutionen sind, die die psychische Triebstruktur des Einzelnen 'konstituieren'; die zeigt, daß das Individuum immer und nur in der umwelthaft beschränkten Welt einer konkreten Gesellschaft existieren kann, befindet sich in derselben widersprüchlichen Lage, die Marx einmal am Hegelschen System feststellte: sie ist selbst Institution, selbst eben Produkt einer bestimmten Gesellschaft, selbst das, was in der Sprache der Dialektik 'abstrakt' heißt. Für sich selbst beansprucht sie eine übergeschichtliche, 'göttliche' Perspektive, und übersieht eben das dabei, was sie selbst geworden ist, nämlich Weltanschauung; d.h. sie übersieht das eigentlich Erklärensbedürftige am Evolutionsprozeß:
»Erich Rothacker vor allem hat zeigen können (Probleme der Kulturanthropologie, 1948), daß die Rede von einer 'Weltoffenheit' des Menschen im Gegensatz zur 'Umweltgebundenheit' des Tiers zu abstrakt ist: Menschen leben sowenig in der Welt, wie sie die Sprache sprechen oder die Kunst hervorbringen; sie leben jeweils in den fast umwelthaft beschränkten Welten ihrer konkreten Gesellschaft. Hochselektive und traditionsfeste Interessen, Gewohnheiten und Haltungen, das, was Rothacker 'Lebensstil' nennt, auf der einen, und ein entsprechendes, muttersprachlich vorformuliertes Weltbild auf der anderen Seite; beides eingelassen in ein bestimmtes 'System' gesellschaftlicher Arbeit, in Produktionsverhältnisse mit entsprechenden Institutionen politischer Herrschaft; alles das, was bei Hegel unter dem Titel des 'objektiven Geistes' erschien; was im Gefolge der Historischen Schule zur Kultur, im Gefolge von St. Simon und Marx richtiger zur Sphäre der 'Gesellschaft' gerechnet wird – hat tatsächlich Züge einer Umwelt, die zwar weitaus reicher ist als die Umwelten aller Tierarten zusammengenommen, aber doch auch in gewisser Weise geschlossen ist, eben nicht 'objektiv', nicht offen für beliebig viele, grundsätzlich für alle mögliche Fakten. An Stelle der 'angeborenen Lebensweise' tierischer Arten treten die geschichtlich erworbenen 'Lebensstile' menschlicher Gesellschaften. [...] Die Anthropologie, soweit sie eine philosophische ist, muß die Verschränkung von Umweltgebundenheit und Weltoffenheit, die sie generell glaubt feststellen zu dürfen, auch auf sich selber anwenden. Wer Anthropologie treibt, kann nicht für sich die Position der Engel, des 'Bewußtseins überhaupt', beanspruchen, die er allen anderen abspricht; auch er lebt in einer konkreten Gesellschaft, fragt insofern aus einem 'dogmatischen' Ansatz (Rothacker), läßt seinen Begriff vom Menschen anleiten durch die objektiven Interessen seiner Lebenswelt, durch Interessen, die aus den geschichtlichen Tendenzen der gesellschaftlichen Entwicklung hervorgehen. Nichts ist durchsichtiger als der Zusammenhang zwischen dem heute führenden Begriff des Menschen, als eines arbeitenden und handelnden, mit der Welt bürgerlicher Arbeit: er entsteht über Herder und Hegel bei Marx mit dem Beginn der industriellen Gesellschaft, und mit deren Entfaltung wird er zur Grundlage einer neuen Disziplin – eben der philosophischen Anthropologie. Diese wird darum nur in dem Maße kritisch, wie sie sich im Wechselgespräch mit einer Theorie der Gesellschaft begreift.«[211]
Was hat es nun mit der Habermas'schen Anthropologie–Rezeption auf sich? Kann sie, wie manche Philosophen glauben, als 'Biologismus' oder 'Naturalismus'[212](d.h. als Denkfehler) abgetan werden, der »strikt« erkenntnistheoretische oder philosophische Themen nicht tangieren und der sowohl der Subjekt/Objekt–Philosophie als auch der Theorie/Praxis–Problematik äußerlich bleiben kann?
Gegen seine philosophischen Kritiker hat er immer wieder jenes Argument zur Geltung gebracht, das einmal den Übergang zur »Praxis« motivierte: das durch Kant und Hegel inaugurierte Verfahren – die 'Bewußtmachung' von unbewußt motivierten Wahrnehmungsschranken und die davon abhängenden Handlungszwänge[213] – darf ebensowenig scholastizistisch auf die Interpretation von überlieferten Texten eingeengt, wie szientistisch, nach dem Modell einer Methodenlehre trivialisiert werden; jene 'synthetischen Aprioris' (die die Philosophie auf ihre Weise glaubt 'aufheben' zu müssen) sind dorthin zu verfolgen, wo sie (so scheint es heute) ihren realen Ursprung haben, nämlich im Evolutionsprozeß. Die Philosophie behält als allgemeines Resultat die Einsicht in das Illusionäre, in das Irrationale der sinnlichen Gewißheit und dem Intuitionismus[214]; wenn sie aber dem modernen Mythos – dem Platonismus in all seinen Gestalten – entrinnen will, ist sie auf jenen schwierigen Paradigmenwechsel angewiesen, für den die philosophische Überlieferung die Begriffe 'Materialismus' und 'Selbstreflexion' bereithält. Kurz: eine Philosophie, die ihre eigene Tradition ernst nimmt, darf vor der Frage nach dem 'gesellschaftlichen Subjekt' nicht kapitulieren[215], ebensowenig aber darf sie die eigenen allgemeinsten Begriffe kanonisieren. (Mit anderen Worten: gegen die arbeitsteilig betriebene Philosophie braucht er nicht viel mehr zu tun, als den vom Linkshegelianismus hervorgebrachten Einwand zu wiederholen: eine Philosophie, die sich 'bloß' mit der Versöhnung im Geiste abgefunden hat, hat im Angesicht der realen, immer apokalyptischer anmutenden Antagonismen schon resigniert.)
Gegen seine orthodoxen Kritiker hat er es weit schwerer; hier gibt es keinen aus dem Linkshegelianismus (Bauer, Stirner) stammenden Fundus von Argumenten, der wieder aktualisiert werden könnte, keine Überlieferung, an die appelliert werden kann. Die Anthropologie, bei aller berechtigten Kritik an ihren philosophischen Prämissen, scheint Argumente hervorbringen zu können, die Zweifel am Marxschen Arbeitsbegriff – Demiurg seiner Geschichtskonstruktion – stärken. Der Übergang aus der Natur in die Kultur ist mit dem überlieferten Arbeitsbegriff nicht erklärbar[216]. Die Begriffe, die Marx für die Auseinandersetzung mit der äußeren Natur wählt, sind institutionsgebunden, sie setzen das voraus, was im Menschwerdungsprozeß noch erklärt werden muß, nämlich den Menschwerdungsprozeß im buchstäblichen Sinne: wie und warum es dazu kam, daß der Trieb, auf Tierebene der Hauptanpassungsmechanismus an eben jene 'äußere Natur', vor drei Millionen Jahren (zwischen Pleistozän und Früh–Paleolithikum) durch Sprache und Ritus 'moduliert' wurde. Jene humanspezifische psychische Plastizität des Subjekts, die vom Marxschen Produktions– und Klassenbegriff vorausgesetzt wird, ist keineswegs seit aller Ewigkeit vorhanden, sondern ist selber das eigentlich erklärungsbedürftige Phänomen; wer die Vermittlung von Natur und Kultur, von Struktur und Geschichte verfolgen will, muß erklären können, was mit dem Produktionsbegriff nicht faßbar ist: wie biologische Subsysteme (z.B. die Funktionskreise instrumentellen Handelns, Spezies–Integration, Informationserwerb und Anpassungsprozeß) während des Pleistozäns durch die neuen evolutionären Errungenschaften (Ritual, Sprache, Rolleninternalisierung) gleichzeitig aufgehoben und qualitativ 'verbessert' wurden[217]. In den Begriffen 'Trieb' und 'Institution' vermutet Habermas das, was die Herausgeber der Zeitschrift für Sozialforschung zwanzig Jahre vorher in Freud glaubten vor sich zu haben[218]: eine konkurrenzfähige Alternative zum Marxschen Modell einer 'Dialektik' von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen. Habermas' Interessenbegriff – hier (1958) schon eingeführt[219] – soll wie der Marxsche Produktionsbegriff fähig sein, Funktion und Substanz, Trieb und Institution, Subjekt und Objekt, das biologisch Konstante und geschichtlich Variable in einem auszudrücken[220], nur besser. Er sieht hier die Möglichkeit, aus dem Dialektikbegriff das zu machen, was letzterer bisher nur versprochen hat, nämlich Forschungsinstrument, Aufklärungsprozeß und Befreiungsbewegung in einem zu sein.
Auch der andere Vorzug der philosophischen Anthropologie kommt hier zur Sprache: sie hat jene, aus der Metaphysik geerbte, falsche Überheblichkeit, die sich – im Namen des 'Transzendentalen', des 'Seins', des 'Ursprungs' oder der 'Geschichte' – über die 'bloßen' Einselwissenschaften erhaben dünkt, abgestreift. Später wird er es auf die Formel bringen: eine kritische Anthropologie steht 'zwischen' Philosophie und Wissenschaft – und ist doch beides[221]. Die allgemeinsten Begriffe, die sie ausarbeitet, sind keine dogmatischen Konstruktionen, von denen aus die Erscheinungswelt 'abgeleitet' oder 'deduziert', von denen aus 'ins Sein eingedrungen' werden soll oder von deren Standpunkt aus verbindliche Entscheidungen über das Unveränderliche bzw. Vergängliche zu treffen sind, sondern bewahren sich, wenn überhaupt, einzig und allein in jenem Komplex, dem Horkheimer zwanzig Jahre vorher den Titel »Wissenschaft und Krise« gegeben hat[222].
II.2.1 Habermas' Anthropologie–Rezeption: Antriebsbasis, Sprache, Geschichtslogik
Habermas' Marxrezeption ist nicht von antiquarischem Interesse geleitet: als geschulter Philosoph durchforscht er nach dem Zweiten Weltkrieg die Interpretations–, Wirkungs– und Realgeschichte des Marxismus in der Überzeugung, daß ein angemessener (d.h. nichtkontemplativer) Krisenbegriff philosophisch an der von den Linkshegelianern inaugurierten Kritik des affirmativen Charakters der Kultur anknüpfen muß; d.h. sie muß an dem traditionellen Ziel der Philosophie ('Selbstreflexion') in einer nachidealistischen Version um so verbissener festhalten, als es der dialektischen Tradition jetzt aufgeht, daß in einer geänderten geschichtlichen Lage auch ihre eigenen Kategorien nicht unproblematisch geblieben sind. Die Kategorien 'Krise' und 'Selbstreflexion' verbinden Habermas dennoch mit jenem Teil der philosophischen Überlieferung, die ihren (wenn auch stets formaler werdenden) Bezug zur Lebenspraxis nie aufgegeben hat[223]. 'Versöhnung', 'Subjekt', 'Selbstreflexion', 'Widerspruch' und 'Praxis' sind aber die disiecta membra einer (spezifisch deutschen) dialektischen Tradition, die sich in ihrer Hegelschen und Marxschen Version nicht mehr systematisch verteidigen läßt; sie halten die Erinnerung an Intentionen wach, die – wenn überhaupt – nur auf eine radikal andere Weise noch zu erfüllen sind; sie haben, wie er es später ausdrücken wird, eine »Statthalterfunktion«[224]. Hieraus ergibt sich die Brisanz und der Stellenwert der Habermasschen Anthropologierezeption; seit dreißig Jahren ist er von der Frage fasziniert, ob sich auf diesem Boden ein Äquivalent zur Widerspruchs– und Verdinglichungskategorie – mit allen ihren theoretischen und praktischen Konnotationen – systematisch ausarbeiten läßt[225]. Es ist ein Thema, das sich durch sämtliche seiner Schriften verfolgen läßt[226]; zeigen wir nun, wie noch vor Erkenntnis und Interesse das Begriffspaar instrumentelles Handeln/ kommunikatives Handeln bestimmt wird.
II.2.2. Zwischen Weltdeutung und Tatsachenwissenschaft: Scheler, Plessner, Gehlen[227]
Die philosophische Anthropologie der fünfziger Jahre, an die Habermas anknüpft, ist eine widerspruchsvolle Synthese von unterschiedlichen Traditionen. Mit der existentialistischen Subjektphilosophie hat sie jenen traditionellen, metaphysisch–weltanschaulichen Zug gemeinsam, der auf eine umfassende Deutung 'des Menschen' und des Seienden im Ganzen hin zielt; diese 'Existenzerinnerung' sucht sie aber nicht mehr spekulativ zu erreichen, sondern durch Rückgriff auf das, was für die ältere Philosophie Anathema gewesen wäre: auf die experimentell verfahrende, wissenschaftliche Biologie. Geist und Leib, Vernunft und Trieb, Begriff und Begierde, Daseinsanalyse und 'Wesen' des Menschen, d.h. die traditionellen Themen der Metaphysik seit der Antike werden durch das Verhältnis Mensch/Tier erläutert, wie es von der Zoologie dargestellt wird.
Charakteristisch für die von Scheler begründete Disziplin ist eine paradoxe, aber auch außerordentlich fruchtbare Mehrdeutigkeit zwischen Empirie, Geschichte und Konstitutionstheorie: sinnesphysiologische oder anatomische Beobachtungen (Weltoffenheit, Neotenie, Greifhand) kehren auf der Ebene der Geschichtsschreibung wieder als metahistorische Periodisierungsschemata und auf erkenntnistheoretisch–psychologischer Ebene als Theorien der Erfahrungskonstitution. Man könnte vermuten, daß es gerade dieses Ineinanderübergehen von handfester Empirie und Transzendentalphilosophie war, was für die Sicht des Dialektikers diese Spannung so attraktiv machte. Scheler, Plessner und Gehlen, wie weit sie sonst von der dialektischen Tradition entfernt sein mögen, haben mit dieser – wie Habermas früh erkannte – dann auch das gemeinsam, was den Vergleich mit Hegel und Marx geradezu herausfordert: souverän setzen sie sich über disziplinäre Grenzen hinweg und lassen sich von der etablierten akademischen Arbeitsteilung wenig beeindrucken. Hinzu kommt, daß die faktischen Fortschritte in der Ethologie, Paleoanthropologie, Genetik, Ökologie und Geologie (auch in der Psychoanalyse, der kognitivistischen Psychologie und der Systemtheorie) soweit gediehen sind, daß eine Wiederaufnahme des Dialektikproblems auf einer qualitativ anderen Begründungsbasis nötig wird als es am Ende des 19. Jahrhunderts möglich war. Bedenkt man diese Umstände, dann wird verständlich, warum das Unbehagen an einem ontologisierten, bzw. zu ökonomistisch verfahrenden Marxismus ein genaueres Studium der Biologie motivieren konnte. Verfolgen wir, wie Habermas die philosophische Anthropologie rezipiert.
»Wie ist Entstehung von Kultur zu denken? Zwischen dem erkenntnistheoretischen (Kant) und evolutionistischen (Darwin) Ansatz besteht in einer Hinsicht auf die obige Frage eine Kongruenz: auch Kants Anthropologie hat es mit einem materialistisch aufgefaßten Bildungsprozeß der Menschen zu tun. Natur erscheint nicht mehr als 'Außer–sich–sein–des–Geistes', d.h. die auf dem Wege einer radikalisierten Erkenntniskritik freigelegten Strukturen des Geistes sind kein zureichender Schlüssel mehr für die Entstehung der Kultur aus der Entwicklungsgeschichte der organischen Natur. Natur ist unter Voraussetzungen eines historischen Materialismus immer noch beides: einerseits Inbegriff dessen, was in die soziokulturelle Welt einer Gesellschaft eingeht und somit unter zugleich transzendentalen und objektiven Bedingungen eines Systems der gesellschaftlichen Arbeit als das Resultat der Auseinandersetzung der gesellschaftlichen Subjekte mit ihrer Umgebung ihnen als Natur erscheint. Insofern hält auch Marx an dem Kantischen Modell fest, nämlich in Form eines historisierten, aber quasi–transzendentalen Begriffs von Natur; sie ist das, als was sie unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen objektiv erscheint. Auf der anderen Seite aber ist Natur auch das den Bildungsprozeß der Menschengattung Umfassende und Zugrundeliegende, aus dem sowohl die gesellschaftlichen Subjekte wie die historische Natur (als Natur für eine Gesellschaft) hervorgehen. Wenn 'Natur für uns' stets in einem kulturellen Rahmen gegeben ist, so gilt das auch für die Natur als Objektbereich der Naturwissenschaften, wobei sie ganz allgemein als die Gesamtheit der unter dem Gesichtspunkt möglicher technischer Verfügung vergegenständlichten Naturprozesse definiert werden kann. In dem Maße, wie sie aber als solche verstanden und betrieben wird, entzieht sich 'Natur an sich', nämlich jene Natur, aus der Kultur und 'Natur für uns' als Momente gleichermaßen erst hervorgehen, der Kompetenz eben dieser Naturwissenschaften.«[228]
Erkennbar in diesen Sätzen ist der Rekurs auf die beiden Dimensionen, die uns aus der Kritik der politischen Ökonomie vertraut sind und die der Warenanalyse dort ihre abgründige Tiefe verleihen: der Tausch ist etwas Objektives, empirisch Studierbares, einer naturwissenschaftlichen Methode zugänglich. Die Ware – um die Marxsche Fassung dieses Problems noch einmal in Erinnerung zu rufen – ist ein unleugbares Ding unter Dingen, handfest und sinnlich evident; gleichzeitig sind die von den Ökonomen angebotenen und empirisch belegbaren Marktgesetze in einer tiefsinnigen Weise illusionär: sie verfehlen das wahre Wesen des Tausches, denn der reale Geschichtsprozeß wird sich erst durch die Träger dieser Marktgesetze 'äußern', die sich auf die (Pseudo–)Objektivität dieser Gesetze verlassen. Die empirisch belegbaren Marktgesetze vermitteln deshalb eine Realität, die nur 'für uns' ist und nicht 'an sich', denn sie haben auch eine verschleiernde, 'ideologische' Funktion. Wir erfahren die Ware – um es in der Sprache der Reflexionsphilosophie auszudrücken – nur in ihrer 'vermittelten Unmittelbarkeit'.
Es gilt nun zu zeigen, daß Habermas die Philosophische Anthropologie so rezipiert, daß am Ende diese beiden eben genannten Dimensionen wieder aktuell werden, aber in einer revidierten, der Ökonomie eine untergeordnete Rolle zuweisenden Fassung[229].
Der Mensch ist ein biologisches Wesen, d.h. er ist ein 'Naturprodukt'. Er hat eine organische Ausstattung, die verstanden werden muß, bevor das Verhältnis Realität/Erkenntnis wieder aufgenommen werden kann. Wie ist diese organische Ausstattung erklärbar? Die Menschheit ist, aus der Sicht der Biologie, eine Art wie jede andere; sie hat eine phylogenetische Stammesgeschichte, die verstanden werden muß, wollen wir uns selbst verstehen. Anders als die Geschichtsschreibung im engeren Sinne, vermittelt das Studium 'unserer' Stammesgeschichte kein Wissen über individuelle Handlungen, sondern über jene organische Ausstattung, die eine kulturelle Lebensform – und d.h.: Geschichte – überhaupt erst möglich gemacht hat. Wer wissen will, was das heißt: zu 'denken', zu 'sprechen', zu 'handeln' – die klassisch philosophischen Fragen –, wird sich erst Klarheit darüber verschaffen müssen, wie die Naturgeschichte (und nicht Gott, oder die Transzendentallogik) ein handelndes und denkendes Tier hätte hervorbringen können; das ist der Grundgedanke der Philosophischen Anthropologie, den Habermas aufnimmt und weiterführt.
Er geht auf fünf Komplexe ein, die beim Vergleich zwischen Mensch und Tier auffallen: aufrechter Gang, relative Größe des Hirns, verlängerte Jugendperiode, Entdifferenzierung des Antriebssystems, Familienstruktur. Er macht aus diesen Merkmalen wiederum keine 'Ersatzontologie'; anders als bei der älteren Philosophischen Anthropologie werden sie nicht eingeführt, um 'den Menschen' gleich als 'unglückliches Tier', 'unspezialisiertes Neugierwesen', oder biologisch schwaches 'Mängelwesen' (Herder) zu stilisieren:
»Man gewinnt den Eindruck, daß sich alle fünf Dimensionen eher um eine – wie immer auch erhebliche –, graduelle Steigerung schon vorhandener, auf animalischer Ebene auch schon zu beobachtender Entwicklungstendenzen handelt. Von einem Hiatus zwischen Mensch und Menschenaffe, wie die Philosophische Anthropologie gern betont, kann in diesem Sinne nicht die Rede sein, sondern eher von graduellen Übergängen mit der einen Ausnahme, daß der Mensch sozusagen in perfekter Abhängigkeit von der Mutter auf die Welt kommt, während doch das Affenjunge in einem relativ reifen organischen Zustand geboren wird. Die organische Sonderstellung des Menschen verflüchtigt sich vollkommen, wenn wir die artspezifischen Merkmale in die große Linie der Evolution einordnen, d.h. wenn wir uns kurz erinnern an eine Reihe von Kriterien, die der phylogenetische Vergleich aller Pflanzen und Tierarten ergibt, anhand deren wir die Höhe einer Entwicklungsstufe einer Spezies messen: 1. morphologisch, die Differenzierung bzw. zunehmende Komplizierung des Aufbaus eines Organismus; 2. innerhalb des morphologischen Bereichs ist das wichtigste Kriterium die Ausbildung eines neurologischen Systems und eines sensomotorischen Apparates; 3. physiologisch entspricht diesen Differenzierungen eine abnehmende Autonomie der Teilsysteme und ein Schwinden der regenerativen Fähigkeit; 4. ontogenetisch findet es darin seinen Ausdruck, daß mit der höheren Organisation auch die relative Jugendphase zunimmt; 5. im Verhältnis des Organismus zur Umwelt nimmt die Plastizität von Strukturen zu; 6. ökonomisch zahlt sich die Anpassungsfähigkeit an gegebene Umwelten in einer steigenden Quote der Arterhaltung aus: je höher die Organismen entwickelt sind, um so größer ist die relative Häufigkeit des Überlebens; 7. für die psychologische Entwicklung gelten die folgenden Regeln der Evolution: in aufsteigender Linie verändert sich das Verhältnis von instinktiv gesteuerten und individuell gelernten Verhaltensweisen zu Gunsten der Erfahrung. Ferner nimmt das Spiel– und Neugierverhalten zu. Weiter läßt sich eine Differenzierung der Antriebe beobachten, entsprechend steigt aber auch die Häufigkeit der Triebkonflikte und damit Frustrationserfahrung. Auch die Sexualität wird immer mehr von hormonalen Kontrollen freigesetzt. Beim Menschenaffen und beim Menschen besteht eine sexuelle Dauerreizbarkeit.«[230]
Ist es möglich, auf dieser Diskussionsgrundlage einen materialistischen Begriff von Sprache und Intersubjektivität zu gewinnen?
Habermas führt nun eine folgenreiche analytische Unterscheidung ein, die eine ausführliche Diskussion verdient. Das Verhalten eines Tieres kann nach zwei Seiten hin untersucht werden: das Verhältnis zum Raum und zu den Dingen und das Verhältnis zu den Artgenossen. Ein Tier muß sich – wenn es sich gegen die 'Konkurrenz' behaupten will – besser (schneller) bewegen, Nahrung aufspüren, Beute fangen, Gefahren ausweichen, Objekte manipulieren und sogar aus der eigenen Erfahrung lernen können. Die Entwicklungslinie, die zum Menschenaffen führt, weist dann auch progressive 'Verbesserungen' in sämtlichen Organsystemen auf, die mit diesem »Funktionskreis instrumentalen Handelns«[231] in Verbindung stehen, vor allem im Bereich der Sensomotorik. Säugetiere und Vögel hatten die Grundprobleme des Überlebens außerhalb des Wassers (innere Homeostasis, effizientere Reproduktion) verhältnismäßig früh gelöst; gegen Anfang des Känozoikums (etwa vor 100 Millionen Jahren) hatten sie die mit einem weniger effizienten Metabolismus ausgestatteten, mühsamer sich reproduzierenden Amphibien und Reptilien aus den meisten Umwelten schon vertrieben.
Mit den Primaten entwickeln sich nun Organsysteme, die das Grundmuster der Säugetierform beibehalten, darüber hinaus qualitativ neue sensomotorische Strukturen aufweisen, die mit der Kletterexistenz von Affen offenbar in Zusammenhang stehen. Die Kombination binokulärer Vision, Greifhand, Abbau der phylogenetisch älteren 'Erbmotorik', neuartiger neurologischer Strukturen in den Assoziations–, Gedächtnis–, und Koordinierungsregionen des Hirns ermöglicht beim Menschenaffen instrumentelle Manipulier– und Lernfähigkeiten, die sonst im Tierbereich nicht anzutreffen sind: Abstraktions–, Klassifizierungs–, Identifizierungs– und Generalisierungsfähigkeiten, die so etwas wie averbale Begriffsbildung schon voraussetzen. Die Ethologie hat überraschende Kompetenzen bei den höheren Primaten festgestellt: die Integration von verschiedenen, zeitlich diskreten Ereignissen, ihre Klassifikation und Subsumption unter abstrakte Identifikationsmerkmale (Farbe, Größe, Geschwindigkeit), primitives Zählen und Schlußfolgern sind nur einige der experimentell nachgewiesenen Intelligenzleistungen.
»Es ist nun die Frage, ob averbale Begriffsbildung und primitives Zählen und Schlußfolgern nicht durch eine Vermittlung der Assoziation durch Gedächtnisbilder innerer Repräsentation, symbolische Darstellung in der Imagination sozusagen möglich sind. Solche Vorgänge könnten zwangslos als Vorstufe zu einer Symbolisierung aufgefaßt werden. Noch dringlicher stellt sich die Frage im Hinblick auf die Intelligenzleistungen im engeren Sinne, nämlich im Hinblick auf das Problemlösungsverhalten bei den Affen. Wir können hier von intelligentem Handeln im Sinne eines einsichtigen Problemlösungsverhaltens (wobei die Probleme immer in einer technisch zu lösenden Aufgabe bestehen) sprechen. Intelligentes Verhalten dieser Art kann als eine Form instrumentellen Handelns schon aufgefaßt werden. [...] (Frucht außerhalb des Käfigs mit einem Stock heranziehen, dann zwei Stöcke ineinanderschieben, Kisten aufeinandertürmen, um hochhängende Früchte zu erreichen.) Für alle intelligenten Handlungen war kennzeichnend zunächst eine gewisse Verlegenheit angesichts einer problematischen Lage, dann die Plötzlichkeit eines Einfalls und dann die zweckrationale und gewissermaßen schon erfolgskontrollierte Durchführung der Handlung. Wir sind angesichts solcher Leistungen genötigt, anzunehmen, daß bei diesen Affen, die stereoskopisch wahrgenommenen Umweltobjekte in ihren räumlichen Relationen so dauerhaft sind, daß ein virtuelles Durchprobieren von Handlungsfolgen schon vor der Ausführung der Handlung möglich ist.«[232]
Diese Fähigkeiten im »Funktionskreis instrumentalen Handelns«[233] sind analytisch von einer anderen, zweiten Verhaltensform zu unterscheiden, nämlich der Interaktion mit den Artgenossen. Hier ergibt sich ein völlig anderes Bild, denn die Interaktion auf dieser Ebene ist, selbst bei den höheren Säugetieren, weitgehend durch eine rigide Antriebsbasis gesteuert. Die soziale Integration innerhalb der Gruppe – anders als die instrumentelle Manipulation von Objekten – ist instinktuell geregelt: ihr erstes Gebot heißt physische Reproduktion der Spezies. »Das intraspezifische, also das soziale Verhalten ist im großen Umfang auch noch auf den höchsten Wirbeltierstufen durch angeborene Aktions– und Reaktionsnormen geregelt und keineswegs in einem großen Rahmen durch erlerntes Verhalten substituiert«.[234]
Er bezieht sich, um diesen fundamentalen Unterschied klarzumachen, auf Konrad Lorenz, von dem er folgendes Zitat anführt:
»Die nähere Analyse der im weitesten Sinne sozialen Aktions– und Reaktionsweisen von Tieren hat gezeigt, daß diese bis hinauf zu den höchsten Säugetieren in gleicher Weise auf mehr oder weniger hoch differenzierten Systemen von Auslösern, angeborenen Schemata und angeborenen arteigenen Bewegungweisen beruhen, die wie die Zähne eines wohlkonstruierten Räderwerkes ineinandergreifen. Die bedingte Reaktion, d.h. die erworbene Motorik und der durch Lernprozesse vermittelte Reiz, spielt bei der Koordinierung des arterhaltend–sinnvollen Zusammenwirkens der Artgenossen zu gemeinsamen Leistungen eine überraschend geringe Rolle. [...] Selbst bei Vögeln ist die Fixierung der auf Artgenossen bezüglichen Reaktionsweisen auf das biologisch richtige Objekt so ziemlich die wichtigste Leistung, die im sozialen Zusammenwirken der Einzeltiere vom bedingten Reflex vollbracht wird. Die einzige weitere Funktion des Lernens, die in der Soziologie von Vögeln und Säugern eine erhebliche Rolle spielt, ist das persönliche Kennenlernen bestimmter Individuen, das für die Struktur geschlossener Gemeinschaften (Graugänse) bezeichnend ist. [...] Selbst bei den höchsten und im Hinblick auf die Struktur ihrer Sozietäten am weitesten differenzierten Wirbeltieren, etwa bei der Graugans und bei sozialen Caniden, kennen wir bisher kein einziges wesentliches Strukturmerkmal der Gemeinschaft, das durch bedingte Reaktionen veränderlich wäre.«[235]
Diese rigide Antriebsbasis im Bereich der sozialen Integration wird nun in der Entwicklungslinie, die zu den Hominiden führt, weitgehend gelockert. Der Anteil der angeborenen Reflexe im Gesamtverhaltensrepertoire des erwachsenen Tieres wird zunehmend durch erlerntes Verhalten ersetzt; oder anders ausgedrückt: die »Instinktbasis« des Handelns entdifferenziert sich fortlaufend, bis am Ende der Hominidenlinie nur noch eine unspezifizierte Bedürfnisstruktur übriggeblieben ist (Libido, Aggression), die an mehr oder weniger beliebigen Objekten »festgemacht« werden kann. Instinktreste sind noch vorhanden (z.B. in der Motorik der Nahrungsaufnahme, in der Fortbewegungsphysiologie, vor allem im sekundär hypertrophierten Sexualtrieb), aber im Vergleich zur Tierwelt zeigen die Frühmenschen eine beispiellos plastische Triebbasis, die ein erstaunlich breites Spektrum von Verhaltensweisen mit Antriebsenergie besetzen kann. Die Antriebsbasis ist auf der Hominidenebene sozusagen »freischwebend« geworden: sie bedarf jetzt einer Sozialisationsagentur, die sie in eine bestimmte Richtung kanalisiert; sie bedarf jetzt dessen, was auf primitiveren Stufen nicht nötig und nicht möglich war: der »Er–ziehung«. Zwischen der diffusen Antriebsenergie des Neugeborenen und den stabilen, der Selbsterhaltung dienenden Objektbesetzungen des Erwachsenen hat sich m.a.W. eine 'vermittelnde' Instanz eingeschaltet, die neuartige und lebenswichtige Funktionen übernimmt: die familiäre Interaktion.
Der nächste Schritt in der Habermasschen Argumentation ist nun der entscheidende, denn hier wird der Bruch mit der älteren Philosophischen Anthropologie spürbar: die umgangssprachliche Kommunikation konstituiert sich als das Medium, in dem die Frühmenschen sich 'bilden'; d.h. sie setzt auf höherer Ebene fort, was auf Tierebene durch eine bestimmte Anatomie und Neurophysiologie festgelegt wird: sie ist Welt der möglichen Erfahrung und der Triebstruktur in einem. Oder allgemeiner gefaßt: die umgangssprachliche Kommunikation hat die Funktion eines Anpassungsorgans übernommen; sie vermittelt ebenso zwischen der Bedürfnisstruktur einer unter dem Gebot der Selbsterhaltung stehenden Tiergattung wie sie rückwirkend diese Bedürfnisstruktur selbst ändert und in Regie nimmt[236]. Sie macht die Intersubjektivität einer Welt der kollektiv geteilten Interpretationen möglich, fungiert als Speichermedium für das kollektiv Gelernte und legt den Rahmen fest, innerhalb dessen der Heranwachsende sich individuieren, der Erwachsene sich notwendigerweise bewegen muß.
Das erkenntnistheoretisch Relevante an dieser Welt der umgangssprachlichen Kommunikation ist nun, daß sie weitaus mehr ist als eine Anleitung für zweckrationales Handeln. Denn sie stellt nicht nur dem einzelnen Individuum ein gemeinsames, über unzählige Generationen gewonnenes, in instrumentelle Manipulationen umsetzbares »Kollektivgedächtnis« zur Verfügung, sondern wird zur selben Zeit als eine mächtige Sozialisationsagentur erfahren deren Herrschaft nicht zu entkommen ist: gebieterisch hält sie dem einzelnen Individuum vor, welche Triebe auf intersubjektive Anerkennung stoßen werden (und deshalb in die Ich–Struktur integriert werden dürfen), welche verdrängt und in projektive Ersatzbefriedigungen sublimiert werden müssen. Einerseits werden die Grundantriebe »im Rahmem gesellschaftlicher Systeme für kollektiv organisierte Selbstbehauptung kanalisiert und funktionalisiert«[237], andererseits erfährt das Individuum eben diese kollektive Herrschaft über seine eigene Person im Medium einer Sprache, die es selbst spricht und als seine 'eigene' anerkennt; warum soll es also nicht möglich sein, aus den Regeln der umgangssprachlichen Kommunikation darüber Rückschlüsse zu ziehen, wie sich das Individuum auf den unterschiedlichsten geschichtlichen Stufen zu der äußeren Natur, zu seiner eigenen »inneren« Natur und zu seiner jeweiligen Bezugsgruppe verhält? Diese auf den ersten Blick unschuldig anmutende Frage hat faszinierende Implikationen, denn bei näherer Betrachtung stellt sich heraus, daß sie sich kritisch gegenüber der gesamten philosophischen und soziologischen Überlieferung verhält:
I. Zwar zielt sie, wie die Subjekt/Objekt–Philosophie seit Kant, auf Formen der Vermittlung von Bewußtsein und Sein, Gesellschaft und Natur, Geist und Materie, aber nicht länger unter idealistischen Prämissen, d.h. nicht aus der Perspektive einer spekulativen Philosophie heraus, die Geschichte und Evolution als das bewußte Handeln eines übergeschichtlichen Agens deutet. Leitfaden bei der Analyse der verschiedenen Formen der Aneignung von Natur und Kultur ist nicht länger das transzendentale Subjekt oder die transzendentale Logik, sondern Syntax, Semantik und Grammatik; nicht das philosophierende, von der Idee eines intellectus archetypus geleitete Ich rekonstruiert seinen eigenen Bildungsprozeß, sondern der Soziologe analysiert die umgangssprachliche Kommunikation als Fortsetzung von Anpassungs– und Lernprozessen auf der Humanebene. Insofern ist sie, auch gegenüber der Philosophischen Anthropologie, materialistisch, denn sie zielt nicht auf private Sinnstiftung und Verinnerlichung, sondern auf politisch relevante Thesen über gesamtgesellschaftliche Änderungen im Sozialisationsprozeß. Es ist die Umgangssprache, die nun im Sinne eines »Überbaus« behandelt wird.
II. Zwar zielt sie, wie die Erfahrungswissenschaften, auf eine empirisch überprüfbare Theorie der sozialen Evolution, hält aber an der Vermutung fest, daß dies ohne Preisgabe des empiristischen Methodenbegriffs nicht ausführbar ist. Insofern ist sie antipositivistisch: wenn das biologisch Innovative der Spezies Homo Sapiens die Fähigkeit ist, beliebige Weltbilder mit Antriebsenergie zu besetzen, dann scheint der kollektiven Selbsterhaltung eine substantiellere Bedeutung zuzukommen als einer abstrakten, auf Kant zurückgehenden Wissenschaftstheorie, die nur technisch verwertbares Wissen als intersubjektiv gültig gelten läßt[238].
III. Zwar zielt sie, wie die Theorie von Marx, auf eine Kombination von philosophischen und empirischen Analysen, die die Evolution der Gattung unter der Perspektive einer möglichen Aufhebung von Armut und Krieg studieren will, sie tut dies jedoch nicht länger im Zeichen eines instrumentalistisch gefaßten Arbeitsbegriffs, der dem Unterschied zwischen Technologie und Sozialisationsprozeß nur ungenügend Rechnung trägt. Insofern ist sie revisionistisch, denn die kollektiven Lernprozesse, an denen der geschichtliche Wandel gemessen wird, sucht sie nicht länger in der Ökonomie, sondern in den geschichtlich sich ändernden Formen der sozialen Integration.
Alle drei Themen lassen sich auf den Unterschied zwischen instrumentellem und kommunikativem Handeln zurückführen; wie der Marxsche Arbeitsbegriff, so ist auch dieser Unterschied eine Art Universalschlüssel, eine moderne Kategorienlehre, deren Erklärungskraft darauf zurückzuführen ist, daß sie sich auf philosophische, empirische und politische Analysen gleichermaßen anwenden läßt.
Habermas wird sich während der sechziger und siebziger Jahre allen drei Themen intensiv widmen:
a. Legen sich auf der Humanebene die Ergebnisse kollektiver Lernprozesse als Regeln der Verknüpfung von Symbolen nieder, dann stellt das eine materialistische Theorie der Entwicklung von Bewußtseinsstrukturen in Aussicht, die direkt an Sprache und an Weltbilder – und damit an das Material aus der Linguistik, Anthropologie und der Sozialisationsforschung – anschließen kann.
b. Kann nachgewiesen werden, daß Weltbilder systemtheoretisch angebbare, objektive Funktionen ausüben, dann gilt das nicht nur für Mythos und Religion, sondern ebensosehr für jenes Weltbild, dessen interne Rationalisierung – im Sinne Max Webers – am weitesten fortgeschritten ist: das Weltbild des naturwissenschaftlich fundierten Positivismus. In dem Moment, indem es gelingt, eine soziologisch plausible Funktion für Naturwissenschaft und formale Logik anzugeben, tritt die Soziologie zu ihrem eigenen objektivistischen Selbstverständnis unmittelbar in Widerspruch.
c. Haben Weltbilder handlungs– und kommunikationstheoretisch angebbare Konsequenzen für das Verhalten des einzelnen Subjekts, so stellt das eine andere mögliche Erklärung für jenen rätselhaften Prozeß in Aussicht, der bei Marx 'Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen' genannt wird. Muß der Institutionalisierungsprozeß in der Geschichte nicht eher lern– und kommunikationstheoretisch untersucht werden als mit Hilfe eines Modells, das die Gültigkeit der Hegelschen Logik immer noch (wenn auch indirekt) voraussetzt? Die Verständigung zwischen empirischen Subjekten findet jeweils innerhalb einer überlieferten kulturellen 'Lebenswelt' statt. Legen die Weltbilder, die implizit in jeder kulturellen Überlieferung mit enthalten sind, Grenzen von möglichen individuellen und kollektiven Lernprozessen fest? Ist auf dieser Linie eine Geschichtskonstruktion zu erwarten, die die Antinomien des Marxschen Begriffs der Produktionsform vermeiden kann?
Er wird sich allen drei Themen in Monographielänge widmen: das erste wird sich in der »Universalpragmatik« und der Theorie des kommunikativen Handelns niederschlagen, das zweite in der Kritik am überlieferten soziologischen Methodenbegriff, (Zur Logik der Sozialwissenschaften, Erkenntnis und Interesse, »Wahrheitstheorien«) und das dritte in der Kritik am Marxismus in engeren Sinne: an dem Marxschen Arbeitsbegriff, an dem Marxschen Institutionalisierungs– und Geschichtsbegriff (Theorie und Praxis, die entsprechenden Kapitel in Erkenntnis und Interesse und Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus). Alle drei Themen lassen sich einerseits auf den Unterschied von instrumentellem Handeln und kommunikativem Handeln zurückführen, setzen sich andererseits mit Theorien und Disziplinen auseinander, deren Befürworter sie als autonome Gegenstandsbereiche verstehen: mit der Linguistik, der Sozialisationsforschung, der Wissenschafts– und Systemtheorie, dem Marxismus. Gerade an dieser universellen Anwendbarkeit kann man sich dann auch klarmachen, daß es Habermas gelungen ist, ein begriffliches Abstraktionsniveau zu erreichen, das wir sonst nur noch aus der philosophischen Überlieferung kennen; das läßt sich ironischerweise unter anderem daran bestätigen, daß mit wenigen Ausnahmen (z.B. Wellmer) die Sekundärliteratur in der Regel einen Aspekt des Systems herauslößt um die anderen zu ignorieren: der Unterschied zwischen instrumentellem Handeln und kommunikativem Handeln (oder das Arbeit/Interaktions–Begriffspaar) wird entweder soziologisch, methodologisch/ erkenntnistheoretisch oder politisch interpretiert und nur selten in seiner vollen Tragweite.
Man kann sich aber anhand eben dieses Unterschiedes zwischen instrumentellem Handeln und kommunikativem Handeln ebensosehr ein klassisches Problem des Marxismus vor Augen führen, auf das Habermas selbst oft hingewiesen hat[239], das aber in seinem eigenen Werk – vor allem in der Theorie des Kommunikativen Handelns – virulent wird: Philosophie und Wissenschaft stellen unterschiedliche, nicht ohne weiteres miteinander zu vereinbarende Anforderungen. Die auf Hegel zurückgehende Tradition will Bewußtseinsänderung und Ideologiekritik; jene Linie, die von den Linkshegelianern zu Adorno führt, konstituiert sich immer eindeutiger als eine kompromißlose Attacke auf alle falschen, reale Gewaltverhältnisse nur verklärenden Harmonie– und Versöhnungslehren; das steigert sich bis zu einer jeder Affirmation abhold gewordenen »Rebellion gegen den Schein« (Adorno) der, um die objektive Möglichkeit einer ganz anderen Empirie willen, in jeglichem System– und Kausalitätsdenken einen Verrat an der Hoffnung erblickt[240]. Wenn in dieser Tradition die Rede von Reflexion ist, dann meint sie die Entlarvung des Neokantianismus als anrüchiges Einverständnis mit der Wirklickheit, d.h. denkt man in dieser Tradition, dann hat der Unterschied zwischen instrumentellem Handeln und kommunikativem Handeln den Sinn, Kausalitätsdenken als falschen Idealismus (als »Identitätsdenken«) zu entlarven; Ziel der Analyse ist dann der Nachweis, daß die objektive Krise ihren Grund in der Psyche des neuzeitlichen Subjekts hat, letztendlich im monadologischen Charakter des Kausalitätsbegriffs selbst[241]. Weil das, worauf die Termini instrumentelles Handeln und kommunikatives Handeln sich beziehen, ein subjektiver Lernvorgang ist (eine nur von dem Einzelsubjekt vollziehbare Befreiung von internalisiertem Zwang, ein Verinnerlichungs– und Individuierungsprozeß), ist es genauso unmöglich sie empirisch zu definieren wie das mit den Freudschen Begriffen (Ich/Es) bekanntlich der Fall ist: diese Termini beziehen sich dann nicht auf ein Seiendes, sondern berichten von einer subjektiv vollzogenen Befreiung vom gesellschaftlich oktroyierten Schein, vom »Identitätszwang« (Adorno). (Psychologisch gesprochen: das Innewerden von Projektionen und Objektbesetzungen.)
Ein kategorial anderes Thema entsteht aber (und zwar in dem buchstäblichen Sinne, daß es nun ein Seiendes ist, nicht länger eine subjektive Reflexionsbestimmung), sobald der Unterschied zwischen instrumentellem Handeln und kommunikativem Handeln als ein empirisches Phänomen eingeführt wird, um im Anschluß an die Marxsche Warenanalyse die qualitativen 'Sprünge' in der Natur und Kulturgeschichte als 'evolutionäre Lernvorgänge' (Habermas) von komplexen Systemen zu studieren. Denkt man in dieser Tradition, dann hat 'Reflexion' nun den empirischen Sinn eines systeminternen, auf Änderungen in der Umwelt reagierenden Komplexitätssteigerungsprozesses. Habermas' Vorschlag, bei der materiellen Geschichtsschreibung die Marxsche Real–Dialektik durch den Lernniveaubegriff zu ersetzen[242], ist deshalb so plausibel, weil damit einem wichtigen Ergebnis der Systemtheorie Rechnung getragen wird: diese hat nämlich zeigen können, daß die großen 'Schübe' in der Natur– und Kulturgeschichte auf qualitative Erweiterungen von Lern– und Anpassungsprozessen zurückzuführen sind[243]. Wird der Unterschied zwischen instrumentellem Handeln und kommunikativem Handeln als empirische Größe eingeführt, dann hat er m.a.W. den systemtheoretischen Sinn, darauf hinzuweisen, daß mit den höheren Primaten ein qualitativ neuer Mechanismus der sozialen Integration an Bedeutung gewinnt, der auf niedrigerer Tierebene unbekannt ist: gemeinsam geteilte »Objektbesetzungen«, die während eines Sozialisationsprozesses internalisiert werden. Verfolgt man diese Linie der Analyse, dann zielt sie auf die empirische Untersuchung von individuellen und kollektiven Lernprozessen bis hin zu Entscheidungs– und Integrationsprozessen in moderenen Gesellschaften. D.h.: sie hat dann nicht das Ziel, Kausalitätsdenken seiner ideologischen Beschränktheit zu überführen, sondern es für das Studium eines höchst aktuellen Problems bewußt einzuspannen: Krisenerscheinungen in modernen Gesellschaften und ihre Ursache. Habermas verfolgt diese beiden Stränge: Ideologiekritik und empirische Analyse. Gerade weil der Unterschied zwischen instrumentellem Handeln und kommunikativem Handeln so allgemein gefaßt wird, daß er beides einschließen kann – Philosophie und Wissenschaft – wird er aber mehrdeutig: das wird Habermas bei der konkreten Ausarbeitung einer Geschichtskonstruktion vor erhebliche Probleme stellen.
II.3 Zwischen Philosophie und Wissenschaft: Krisenbewußtsein als Formprinzip
Habermas' »Zwischen Philosophie und Wissenschaft: Marxismus als Kritik«, 1960 geschrieben, ist eine sensible Bestandsaufnahme der Lage jenes Teils der engagierten europäischen Intelligenz, der nach dem Zweiten Weltkrieg trotz einer geänderten geschichtlichen Konstellation »den immanenten Anspruch dieser Theorie, die Bewegungsgesetze der Gesellschaft zu erkennen«[244], nicht aufgeben will. Den radikalen Bruch mit dem 19. Jahrhundert, der eine gründliche Revision des überlieferten Dialektikbegriffs erzwingt, faßt er in vier Punkten zusammen:
1. Die für die liberale Phase des Kapitalismus typische 'Trennung' von Staat und Gesellschaft ist im 20. Jahrhundert wechselseitig aufgehoben worden: immer entschiedener greifen Verwaltung und Staat direkt in Aspekte des Lebens ein, die auf einer früheren geschichtlichen Stufe noch den autonomen Entscheidungen des bürgerlichen Privatsubjekts und dem Marktmechanismus überlassen wurden; immer entschiedener nimmt aber auch die Konkurrenz zwischen rivalisierenden ökonomischen Interessen eine unmittelbare politische Gestalt an. Es sind soziologische und gesamtgesellschaftliche Umstände, die eine zentrale Voraussetzung der Marxschen Dialektik – die Präponderanz des Ökonomischen – außer Kraft gesetzt haben: »Eine Betrachtungsweise, die die ökonomischen Bewegungsgesetze der Gesellschaft methodisch zunächst einmal isoliert, kann nur so lange beanspruchen, schlechthin den Lebenszusammenhang der Gesellschaft in seinen wesentlichen Kategorien zu erfassen, als Politik von der ökonomischen Basis abhängig ist, und diese nicht umgekehrt auch schon als eine Funktion der mit politischem Selbstbewußtsein ausgetragenen Konflikte begriffen werden muß.«[245]
2. 'Entfremdung' kann nicht mehr unmittelbar mit Pauperismus gleichgesetzt werden – sie hat »ihre ökonomisch sinnfällige Gestalt des Elends eingebüßt.«[246] Auch ihr Pendant – Herrschaft – hat sich anonymisiert: sie nimmt nicht länger die Form eines »im Lohnarbeitsvertrag fixierten Gewaltverhältnisses« an. »In dem Maße, in dem der ökonomische wie politische Status der 'Diensttuenden' gesichert wird, treten Verhältnisse persönlicher Herrschaft hinter den anonymen Zwang indirekter Steuerung zurück – in wachsenden Bereichen des gesellschaftlichen Lebens verlieren Anweisungen ihre Befehlsform und werden auf dem Wege sozialtechnischer Manipulation derart übersetzt, daß die zum Gehorsam Gehaltenen, gut integriert, im Bewußtsein der Freiheit tun können, was sie tun sollen.«[247]
3. Unter diesen Bedingungen ist es illusorisch geworden, ohne weiteres an dem Marxschen Klassenbegriff festhalten zu können; mögen die Dialektiker noch so sehr von der Krisenträchtigkeit des geschichtlichen Prozesses überzeugt sein, die Hoffnung auf eine fortschrittliche Politik von Seiten des 'Proletariats' entbehrt jeder objektiven Grundlage: »Ein Klassenbewußtsein, zumal ein revolutionäres, ist heute auch in den Kernschichten der Arbeiterschaft nicht festzustellen«.[248]
4. Schließlich wird die Wiederaufnahme einer ernstzunehmenden Debatte über eine dialektisch–hermeneutische Theorie der Gesellschaft durch die bloße Existenz des sowjetischen Staates – und die zunehmenden internationalen Spannungen, die es immer schwieriger machen, sich zumal intellektuell den etablierten Freund–Feind Schablonen zu entziehen – nahezu unmöglich gemacht:
»Die russische Revolution und die Etablierung des Sowjetssystems ist schließlich der Tatbestand, von dem die systematische Diskussion des Marxismus, und mit dem Marxismus am meisten gelähmt worden ist. Die von einem schwachen Proletariat ausgelöste, von den klein– und vorbürgerlichen Bauernmassen getragene, antifeudalistische Bewegung, die unter der Regie leninistisch geschulter Berufsrevolutionäre im Oktober 1917 die Doppelherrschaft von Parlament und Sowjets liquidierte, hatte unmittelbar keine sozialistischen Ziele. Sie begründete aber eine Funktionärs– und Kaderherrschaft, auf die gestützt Stalin, ein Jahrzehnt später, mit der Kollektivierung der Landwirtschaft, eine sozialistische Revolution von oben bürokratisch einleiten konnte. Aus dem Krieg gegen den Faschismus als Weltmacht hervorgegangen, bestimmt der Sowjetmarxismus die auf kapitalistischer Grundlage organisierten Führungskräfte des Westens zur äußersten Wachsamkeit über die Stabilität ihres Systems. Die erzwungene Kontrolle über weite gesellschaftliche Bereiche hat auf dieser Seite Organisationsformen der Sicherung sozialer Stellungen und des Ausgleichs sozialer Entschädigungen, hat eine Art institutionalisierter Dauerreform hervorgebracht, so daß eine Selbstregulierung des Kapitalismus durch Kräfte der 'Selbstdisziplin' als möglich erscheint; das Stichwort für diese Entwicklung ist in den USA geprägt worden: new capitalism. Demgegenüber scheint sich der sowjetische Weg des Sozialismus nur noch als eine Methode abgekürzter Industrialisierung für Entwicklungsländer zu empfehlen, die, weit entfernt von der Verwirklichung einer in Wahrheit emanzipierten Gesellschaft, sogar zeitweise hinter die rechtsstaatlichen Errungenschaften des Kapitalismus in den legalen Terror einer Parteidiktatur zurückgeführt hat.«[249]
Diese vier Umstände haben es für diejenigen, die an den ursprünglichen Intentionen einer nachhegelschen Dialektik festhalten wollen, unmöglich gemacht, in einer unproblematischen Weise sich dem Marxismus zu verschreiben; er ist in seiner theoretischen Prämisse so unhaltbar geworden wie in seiner praktischen, institutionalisierten Gestalt korrumpiert. Zu den Stichwörtern 'Ende des Proletariats', 'Weltbürgerkrieg' und 'Sowjetstaat' muß aber noch eines hinzugefügt werden, will man sich den radikalen Bruch vergegenwärtigen, der diejenigen, die nach 1945 an eine dialektische Gesellschaftstheorie anknüpfen wollten, von Marx selbst unüberbrückbar scheiden: der Zeitgeist hat sich 'verwissenschaftlicht', bezieht sich nicht länger auf die Philosophie, sondern auf die positiven Wissenschaften. Wer die ursprünglichen Intentionen und die Motive einer philosophisch–dialektischen Kritik an der positiven Kultur wieder aufnehmen will, hat als potentiellen Gegner nicht ein absolutes und sich selbst begründendes philosophisches System, sondern die nominalistisch gewordene, neokantianischen Grundsätzen gehorchende, akademisch etablierte Schulsoziologie und Schulökonomie. Wer nach 1945 das Thema einer dialektisch inspirierten Idealismuskritik wieder aufnehmen will – das ist der Gedanke, auf den Habermas immer wieder zurückkommt
[250] – darf nicht länger so tun, als ob es immer noch gilt, den Hegelianismus zu überwinden; so ein Programm bekäme von Seiten einer philosophie–fremden Sozialwissenschaft vorschnell einen ironischen Zuspruch
[251]. Der Zeitgeist hat sich zurückgebildet; nicht wie erkenntnistheoretische Überlegungen in der empirischen Forschung Geltung erreichen könnten steht in der akademischen Soziologie und Ökonomie zur Debatte, sondern die philosophisch einfältigere Frage, ob sie überhaupt dort noch einen Platz haben.
Aber die Dialektik sieht sich selbst, nach 1945, nicht nur mit neuen Gegnern konfrontiert; die akute Gefahr droht nicht so sehr von außen als von innen: sie ist sich ihrer selbst nicht mehr gewiß. Eine revolutionäre Praxis, die ad Kalendas Graecas vertagt werden soll, ist keine mehr; die erkenntnistheoretische Kritik am Positivismus hat ihren politischen Sinn eingebüßt[252]. Wenn von der erhofften 'Einheit von Theorie und Praxis' nur noch eine philosophiegeschichtliche Fußnote übriggeblieben ist, aus welcher Quelle speist die Dialektik dann noch ihre nur noch kuriose Intransigenz gegenüber einer trostlosen Wirklichkeit?[253]
Habermas' Antwort: sie hat keine andere Wahl. Denn eine 'zu sich gekommene' Dialektik, die das Erbe der 'großen' Philosophie materialistisch umpolen und weiterentfalten will, konstitutiert sich nicht so sehr als Freiheitslehre, Subjekt–Objekt–Philosophie, 'realistische' Erkenntnistheorie oder Geschichtskonstruktion, sondern eher als Krisenbewußtsein. Das ist das Wort, das wie kein anderes Habermas' Bemühungen, dem erkenntnistheoretischen Status des Marxismus gerecht zu werden, auf den Begriff bringt, denn es drückt aus, was es in concreto heißen soll: sich nach dem Zusammenbruch der idealistischen Systeme 'zwischen' Wissenschaft und Philosophie eines intellektuellen Standorts zu vergewissern. Diese Vergewisserung geht mit einer Neuinterpretation der Philosophiegeschichte insgesamt einher, die er während der sechziger Jahre ausarbeitet und auf die ich hier kurz eingehen möchte[254].
Die Pointe seiner Neuinterpretation wird deutlich, wenn man den Kontrast zu Hegel oder besser der tradierten Hegelphilologie ausarbeitet. Philosophie, zumal seit der europäischen Neuzeit, sollte nicht so sehr als Erkenntnistheorie oder Wissenschaftstheorie verstanden werden, sondern als Krisenbewußtsein. Das war sie schon im Ausgang des Mittelalters: schon die protestantische und jüdische Mystik (Jakob Böhme, Isaak Luria) hat das Theodizeeproblem dahingehend radikalisiert, daß die Welt für sie als eine von Gott 'verlassene' Welt erscheint, eine Welt, die im Zeichen des 'deus absconditus' jetzt »dem Risiko einer unwiederbringlichen Katastrophe«[255] ausgesetzt ist. D.h., das vereinende Prinzip, das – jenseits des Streits der Schulen – der Philosophie insgesamt zugrundeliegt, konzipiert die Welt als ein kosmisches Ringen zwischen Gut und Böse, als Streit zwischen realen und doch übergeschichtlichen (weil übermächtigen) Mächten, die die Welt als Krise konstituieren. Diese Konstruktion des Weltgeschehens als Krisendynamik – eine Art 'Grundkonsensus' der vorkritischen Metaphysik – bleibt bei Hegel, trotz aller Säkularisierung und Formalisierung, in seinen Grundzügen weiterhin erkennbar: 'das Absolute', das sich 'in' die Geschichte 'entäußert' und diese Entäußerung dann wieder 'negiert', tut dies im Medium einer Realdialektik, deren einzelne Schritte eben Negation, Krieg heißen.
»Wir lassen die Herkunft dieses raffinierten Mythos [die Selbstentthronung Gottes – F.v.G] auf sich beruhen, erwähnen ihn nur, weil Hegel aus der dialektischen Metapher der göttlichen Selbsterniedrigung ein metaphysisches Rechenverfahren gewinnt, mit dessen Hilfe er die Weltgeschichte als Krisenzusammenhang durchkalkulieren kann. Auf jeder Stufe der Entwicklung entfaltet das Böse, Widrige, Zerstörerische eine eigentümliche Sprödigkeit, Eigensinnigkeit und Macht, gewinnt Negatives, ja Negation selber eine solche Positivität, wie sie nur der Gott im Widergöttlichen zustande zu bringen vermag. Der Ausgang der Krise ist freilich nur dann in jeder Phase von neuem ernsthaft offen, wenn die zur Scheidung kommenden Kräfte gleich ursprünglich und, miteinander ringend von gleichem Rang, nach einem Worte Schellings, 'äquipollent' sind. Die vorbehaltlose Selbstauslieferung Gottes an die Geschichte macht den Krisenzusammenhang als Totalität perfekt. Eine Transzendenz innerhalb der Immanenz bleibt gleichwohl gewahrt, weil doch der verlorene Gott immerhin Gott einmal gewesen ist, also mit dieser erloschenen Vergangenheit seinem in die geschichtliche Gegenwart versunkenen Rest auch schon vorweg ist: in der Krisis ist er der Krisis voraus; ist der, der sich, zunächst fremd auf sich zurückkommend, dann doch einholt und wiedererkennt. So rationalisiert Hegel das mythische Schema zur dialektischen Logik der Weltgeschichte als Krise; ja deren geschmeidiger Gang ist der Gang der schmiegsamen Dialektik selber.«[256]
Allerdings kommt das »radikalisierte Theodizeeproblem«[257] bei Hegel als Krisenbewußtsein nur unter den Bedingungen der Philosophie zur Sprache: d.h. Hegel ist sich der Krisenhaftigkeit der Welt vollends bewußt, stellt dieses Wissen aber – seinen identitätsphilosophischen Prämissen gemäß – in den Dienst einer bloß virtuellen Versöhnung. Das Individuum nimmt die Krise wahr, deutet sie aber als Zeichen der unmittelbar bevorstehenden Erlösung um; weil das Endergebnis von vorn herein teleologisch verbürgt ist – menschlicher Intervention also eigentlich nicht bedarf –, besteht der Zweck der Philosophie darin, dies zu wissen, und sie hat damit ihr Ziel erreicht. Die Wahrnehmung der Krise wird so unter der Hand in Heilsgewißheit umgeändert; ihr Endpunkt heißt Gesinnung.
»Diese Philosophie der Welt als Krise hat in ihrer Dialektik von der kontemplativen Substanz des Mythischen noch so viel erhalten, daß sie sich nicht selbst als der Krise unterworfen und ausgeliefert begreift; Philosophie versteht sich vielmehr als deren Lösung. Der philosophische Gott, der sich allem Anschein zum Trotz eben doch der Geschichte nicht ganz preisgab, erhält sich in der philosophischen Reflexion des absoluten Geistes zurück, die, von der Krise unangefochten und ihr überlegen, sich deshalb auch nicht als Kritik zu begreifen braucht, nicht als das Urteil in einem Ringen auf Leben und Tod – nicht als Vorspruch des Lebens, der sich durch das Leben selbst erst bestätigen lassen muß. Statt dessen bildet sich Philosophie zur eigene Totalität, ist nicht Kritik, sondern Synthese.«[258]
Erst bei Marx kommt Kritik 'zu sich selbst' als beides: Krisenbewußtsein und Realkritik an jedem innerweltlichen Seienden, das die objektive Krise im modernen Sinne (kausal) verursacht. Die Krise ist real, wird auf ein Nichtbegriffliches zurückgeführt: Privateigentum. Diese Diagnose selbst ist wiederum nicht selbstgenügsam: sie versteht sich selbst als Teil jener realen Kräfte, die das aus der Welt schaffen werden, was die Krise verursacht; sie ist praktische Synthesis und nicht kontemplative Weltdeutung[259]. Der Schlüssel zu Marx' tiefsinniger Umwandlung der Hegelschen Dialektik ist in dem unscheinbaren Wörtchen 'Kritik' aufzuspüren; es dokumentiert die Auflösung der Einheit von Subjekt und Objekt in der Hegelschen Philosophie und ihre Weiterentwicklung nach zwei Seiten hin: als objektive Wissenschaft und als Ideologiekritik. Als objektbezogene Theorie etabliert sich die Kritik als wissenschaftliche Beschreibung der gesellschaftlichen Krisendynamik; dies bleibt auf der objektiven Seite übrig, wenn die makrosoziologischen Prozesse, die auch im Hegelschen Begriff der 'bestimmten Negation' enthalten sind, nicht länger als die bewußten Handlungen eines übergeschichtlichen, 'transzendentalen' Agens gedeutet werden. Wird erst einmal die falsche hegelsche Harmonisierung dieser makrosoziologischen Prozesse abgestreift, kommt in den Blick, was sie in Wirklichkeit sind: Aspekte eines krisenhaften Gesellschaftssystems. Wird einmal die synthetische, begriffsbildende Kraft der Philosophie aus ihrer kontemplativen, 'idealistischen' Schranke befreit, dann hat sie damit eine neue 'Kopernikanische Wende' vollzogen: sie konstituiert sich fortan als Gesellschaftstheorie, als 'empirische Geschichtsphilosophie in praktischer Absicht'.[260] Damit entsteht ein Theorietypus, der gegenüber Hegel und dem Idealismus neuartige Erkenntnisinteressen verkörpert: er will u.a. wissen, welche gesellschaftlichen Gruppen was tun müssen, um eine allgemeine Krise zu verhindern.
Der Krisenbegriff wird somit neu bestimmt; in erster Linie dadurch, daß er jeglichen Bezug zur subjektiven Moralphilosophie – den er bei Hegel noch hatte – abbricht. Was der Einzelne für gut oder schlecht hält – gemäß der Kritik am Moralismus –, wird sekundär; es zählt einzig die systemtheoretische Analyse des Systems als Ganzes qua Krisendynamik. Erst daraus wird sich ergeben, welche gesellschaftlichen Kräfte objektiv auf die Lösung der Krise hin arbeiten[261].
»Das anfängliche Interesse an der Auflösung der Krise, von dem sich kritische Erkenntnis leiten läßt, ist zunächst nur eine Form des 'subjektiven Geistes'. Die dringliche Erfahrung eines Übels und den leidenschaftlichen Trieb, ihm zu begegnen, nennt Hegel ein 'praktisches Gefühl' für die 'Unangemessenheit des Seins zum Sollen'. Marx muß deshalb sein praktisches Interesse als ein objektives nachweisen – die Verwurzelung seines kritischen Impulses in den objektiven Tendenzen der Krise selbst.«[262]
Daß die empirische Welt sich in einer Krise befindet, ist sozusagen das Wissenschaftliche an der Kritik der politischen Ökonomie: diese soll den Beweis führen, daß eine Gesellschaft, in der wesentliche Investitionsentscheidungen unter Kapitalverwertungsgesichtspunkten getroffen werden, zwangsläufig, und zwar unabhängig von dem, was die einzelnen Subjekte sich dabei denken mögen, einem Prozeß der internen Polarisierung ausgesetzt ist.
»Marx geht dem, in Hegels Dialektik seiner mythologischen Form zwar schon entkleideten, aber durchs idealistische Selbstverständnis der Philosophie immer noch verstellten Motiv jenes sich selbst erniedrigenden und sich in sich verschränkenden Gottes auf den Grund: die Menschheit macht sich in der vielfältigen Anstrengung, das Leben durch eigener Hände Arbeit zu erhalten, zum Autor ihrer geschichtlichen Entwicklung, ohne sich doch als deren Subjekt auch zu wissen. Die Erfahrung der entfremdeten Arbeit ist die materialistische Verifikation der dialektischen Empirie: daß die Menschen in dem, was auf sie zukommt, auf die Werkspur ihrer eigenen Geschichte gesetzt sind: daß sie in den Gewalten, die sich über ihren Köpfen zusammenziehen, ihren eigenen Gemächten begegnen und in der Aneignung der Gegenstände nur die Vergegenständlichung ihrer eigenen Wesenskräfte zurücknehmen.«[263]
Allerdings ist diese 'Synthesis' von wissenschaftlicher Analyse und Krisenbewußtsein nur so lange gegen eine falsche Ontologisierung gefeit, als sie 'praktisch–politisch' noch ein Teil jener sozialen Bewegung bleibt, die objektiv die Krise auch überwinden kann:
»Sobald sich der Historische Materialismus nicht mehr selbst in den objektiven Krisenzusammenhang einbezog; sobald er Kritik ausschließlich als positive Wissenschaft und Dialektik gegenständlich als das Gesetz der Welt verstand – mußte der ideologische Charakter des Bewußtseins metaphysische Qualität annehmen. Geist galt ihm schlechthin und auf immer, den Sozialismus inbegriffen, als Ideologie. In diesem platten Verstande unterscheidet sich dann die richtige Ideologie von der falschen nur mehr nach Kriterien einer realistischen Erkenntnistheorie. Die sozialistische 'Weltanschauung' ist die einzig richtige deshalb, weil sie das Weltgesetz in Natur und Geschichte dialektisch richtig 'abbildet'. Gewiß verstand Marx von dialektischer Methode genug, um sie nicht in dieser Art gröblich mißzuverstehen. Daß aber, unwidersprochen, unter seinen Augen dieses Mißverständnis entstehen und, mit Engels' Weihen versehen, zur Grundlage der 'orthodoxen' Tradition werden konnte, ist auf das Versäumnis zurückzuführen, Kritik als solche zu reflektieren: nämlich nicht nur die wissenschaftlichen Elemente gegen Philosophie, sondern auch die Elemente, die die Kritik ihrer philosophischen Herkunft verdankt, gegen die positivistischen Schranken der Wissenschaften zu rechtfertigen. Wie Maimon und Fichte zuerst, wie dann die Repräsentanten des objektiven Idealismus gegen den subjektiven Idealismus Kants das Argument zuspitzen konnten: dieser habe über dem Geschäft seiner Erkenntniskritik vergessen, sich über das Vermögen transzendentaler Erkenntnis selbst Rechenschaft zu geben; so können auch gegen Marx die Nachgeborenen das analoge Argument verwenden: daß sich die Kritik der Politischen Ökonomie ihres spezifischen Vermögens als Kritik, im Unterschied zu den positiven Wissenschaften, mit denen eins zu sein sie vorgibt, nicht bewußt wurde.«[264]
Dies ist nun das komplexe Thema, das Habermas in seinen Schriften Erkenntnis und Interesse und Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus entfalten wird: ein 'zu sich' gekommener Historischer Materialismus konstituiert sich – hier den Intentionen der Warenanalyse folgend – als Kritik, d.h. als wissenschaftliche Analyse der Welt als Krisenzusammenhang; gleichzeitig (und das ist das Novum gegenüber Marx[265]) ist jenes falsche Bewußtsein dieser Welt, das begrifflich–dialektisch 'durchdrungen' werden muß, nichts anderes als eben diese wissenschaftliche Analyse selbst. Diese beiden Momente ergänzen einander, und wer sie in ihrer wechselseitigen Verknüpfung verstanden hat, hat schon Wesentliches darüber erfahren, was bis in seine neuesten Schriften hinein bei Habermas 'Dialektik' heißt[266]:
1) Nur eine nichtszientifische System– und Kommunikationstheorie, die die Ergebnisse der Anthropologie, der Biologie, der Psychoanalyse und der Sozialisationsforschung einbeziehen kann, hat eine Chance, eine plausible 'Geschichtsphilosophie in praktischer Absicht' zu entfalten, die mithin imstande ist, eine Alternative zur Marxschen Arbeits– und Werttheorie anzubieten d.h., die eine empirisch falsifizierbare Evolutions– und Geschichtstheorie ausarbeitet, die erklären könnte, wieso es dazu gekommen ist, daß die zukünftige Geschichte eher die Gestalt einer düsteren Apokalypse anzunehmen droht als die Verwirklichung von vergangenen Hoffnungen[267]. Oder wissenschaftstheoretisch ausgedrückt: nur sie wäre imstande, die komplementäre Schwäche des Empirismus und des Historismus – des neuzeitlichen Nominalismus und Subjektivismus insgesamt – zu überwinden.
2) 'Den Nominalismus überwinden' heißt aber für Habermas nichts anderes als, auf den Spuren der Dialektik der Aufklärung, das 'Ideologie–', 'Entfremdungs–' oder 'Verdinglichungsproblem' universeller anzusetzen als Marx dies getan hat. Wer Bürgertum oder Tausch sagt, ist zwar insofern über den objektiven Idealismus hinaus, als er in dem falschen, harmonischen Schein der offiziellen Kultur eine nützliche – d.h.: handfeste Interessen verschleiernde – Ideologie vermutet; er dünkt sich selbst aber über die Geschichte erhaben und sieht nicht, daß der 'Verblendungszusammenhang' (Adorno) bis in die kategoriale Struktur der Wissenschaften selber hineinreicht. Oder um es in der von Habermas eingeführten Terminologie auszudrücken: die objektivierende 'Grundeinstellung zur Welt' muß sich selber in ihrer geschichtlichen Produziertheit bewußt werden als 'Universalpragmatik', und das bedeutet: sich als Konstitutum und Konstituens eines objektiven Krisenzusammenhangs bewußt werden. Unter dem Aspekt der Genesis muß sie sich selbst begreifen können als Produkt eben jener Krise, die sie intentio recta glaubt vor sich zu haben: erst in diesem Moment des 'Wiedererkennens' in seinen eigenen materialen Analysen wird das naturbeherrschende Denken sich selbst bewußt als eine verdinglichte 'Verständigungsform' – als gesellschaftlich notwendiger Schein, als 'technologischer Schleier'[268] –, der weitaus verhängnisvoller ist, als die Systeme des Deutschen Idealismus es je waren.
Nur wer diese beiden eben genannten Momente der Habermasschen Analysen auseinanderhalten und 'zusammendenken' kann, wird das nachvollziehen können, was Habermas vor Augen schwebt, wenn er etwa in folgender großartiger Formulierung von 1971 einen Theorietypus in Aussicht stellt, der 'Reflexion' gleichzeitig in zwei völlig unterschiedlichen Weisen zum Thema hat:
»Der Typus von Gesellschaftstheorie, den wir zuerst bei Marx ausgebildet finden, zeichnet sich dadurch aus, daß die Theorie in doppelter Hinsicht reflexiv ist. Der Historische Materialismus will eine Erklärung der sozialen Evolution leisten, die so umfassend ist, daß sie sich auch noch sowohl auf den Entstehungs– wie auf den Verwendungszusammenhang der Theorie selber erstreckt. Die Theorie gibt die Bedingungen an, unter denen eine Selbstreflexion der Gattungsgeschichte objektiv möglich geworden ist; und sie nennt zugleich den Adressaten, der sich mit Hilfe der Theorie über sich und seine potentiell emanzipative Rolle im Geschichtsprozeß aufklären kann. Mit der Reflexion ihres Entstehungs– und der Antizipation ihres Verwendungszusammenhangs begreift sich die Theorie selbst als ein notwendiges katalysatorisches Moment desselben gesellschaftlichen Lebenszusammenhangs, den sie analysiert; und zwar analysiert sie ihn als einen integralen Zwangszusammenhang unter dem Gesichtspunkt seiner möglichen Aufhebung. Die Theorie erfaßt also eine doppelte Beziehung zwischen Theorie und Praxis: sie untersucht einerseits den geschichtlichen Konstitutionszusammenhang einer Interessenlage, der die Theorie gleichsam durch die Akte der Erkenntnis hindurch noch angehört; und andererseits den geschichtlichen Aktionszusammenhang, auf den die Theorie handlungsorientierend einwirken kann. Im einen Fall handelt es sich um die soziale Praxis, die als gesellschaftliche Synthesis Erkenntnis möglich macht; im anderen Fall um eine politische Praxis, die bewußt darauf abzielt, das bestehende Institutionensystem umzuwälzen. Durch die Reflexion ihres Entstehungszusammenhangs unterscheidet sich Kritik ebenso von Wissenschaft wie von Philosophie. Die Wissenschaften blenden nämlich den Konstitutionszusammenhang aus und verhalten sich zu ihren Gegenstandsbereichen objektivistisch; während umgekehrt Philosophie sich ihres Ursprungs als eines Ersten ontologisch nur zu sicher war. Durch die Antizipation ihres Verwendungszusammenhangs unterscheidet sich Kritik von dem, was Horkheimer traditionelle Theorie genannt hat. Sie begreift, daß ihr Geltungsanspruch allein in gelingenden Prozessen der Aufklärung und das heißt: im praktischen Diskurs der Betroffenen eingelöst werden kann. Kritik entsagt dem kontemplativen Anspruch monologisch aufgebauter Theorien und sieht zudem, daß sich auch die bisherige Philosophie, ihrem eigenen Anspruch zum Trotz, einen kontemplativen Charakter bloß anmaßt.«[269]
'Selbstreflexion der Gattungsgeschichte' ist ein objektiver Begriff, der im Rahmen einer Theorie der sozialen Evolution auf ein Äquivalent zur Marxschen Reihenfolge von vergangenen Produktionsformen zielt, die diese Spezies schon durchlaufen hat; hier geht es um eine soziologische Erklärung sensu strictu, deren Gegenstand die Realgeschichte dieser Erde ist. 'Reflexion ihres Entstehungszusammenhangs' zielt demgegenüber in die 'andere' Richtung: jetzt wird das eben genannte Thema intentio obliqua behandelt, ist 'philosophisch' geworden. Wer will das obengenannte eigentlich wissen und wozu? Erst der Krisenbegriff (im obigen Zitat indirekt, durch die supponierte Notwendigkeit einer Umwälzung des 'bestehenden Institutionensystems' angedeutet) zeigt, wie diese zwei Momente miteinander und mit dem dritten (Aufklärung, politische Praxis) zusammenhängen und unterschwellig (eben: 'dialektisch') miteinander verbunden sind. Erst der Krisenbegriff zeigt, warum jedes dieser drei Themen jeweils die anderen zwei impliziert:
1. 'Selbstreflexion der Gattungsgeschichte': Eine Theorie der sozialen Evolution (z.B. vom Typus des Parsons'schen Funktionalismus) – eine 'rein' soziologische Betrachtungsweise also –, die sich selbst letztendlich als hypothetisch–deduktives System von (Quasi–)Naturgesetzen versteht, verfehlt ihren Gegenstand (die Realgeschichte) auf eine doppelte Weise: sie sieht keine objektive und keine subjektive Krise. Weil ihr 'letztes' Bezugssystem der Kausal– oder Systembegriff ist, kann sie nicht anders, als ihren Gegenstand unter den 'transzendentalen' Bedingungen einer möglichen zukünftigen instrumentellen Manipulation zu betrachten: sie hat ihren Gegenstand so 'konstituiert', daß die Möglichkeit einer unwiderrufbaren gesellschaftlichen Naturkatastrophe (z.B. vom Typus Atomkrieg) 'kategorial' nicht faßbar ist[270]. In diesem Sinne ist sie 'harmonistisch' oder wie Habermas sie nennt: 'monologisch'. Auch subjektiv (auf der wissenschaftstheoretischen Ebene) sehen diese Theoretiker keine Sinnkrise: sie können ihre Entscheidung, die Logik einer kausal–analytischen Methode der Logik einer hermeneutisch–verstehenden ('kommunikativen') Methode vorzuziehen, nicht als Entscheidung begründen, sondern sie nur konventionalistisch wiederholen[271]. Nur über die Wiederaufnahme jenes Themas, das im Deutschen Idealismus 'Reflexionsphilosophie' heißt (das jetzt allerdings auch über Wittgenstein, Peirce und die Sprachtheorie aktualisiert werden könnte, wie es u.a. auch K.O. Apel im Sinn hat), wäre die Formal–Soziologie imstande, diese 'idealistischen' und 'dezisionistischen' Momente soweit zu überwinden, daß sie ein Äquivalent zu dem ausarbeiten könnte, was bei Hegel »das abstrakte unwirkliche Wesen«[272] und bei Marx eine 'Realabstraktion' heißt. Die Formal–Soziologie wird aber so lange eine angemessene, nicht–positivistische Gesellschaftstheorie verfehlen (und deshalb im Sinne der Vernunft–Philosophie 'subjektiv' bleiben), als sie die ontologische Struktur der Wirklichkeit mit dem verwechselt, was sie selbst ('an sich') verkörpert, sich aber in ihrer objektiven Vermitteltheit durch den Geschichtsprozeß nicht bewußt gemacht hat: die 'objektivierende Grundeinstellung zur Welt' selbst.
2. 'Reflexion ihres Entstehungszusammenhangs': Wenn das, was einer 'positivistisch halbierten' Evolutionstheorie fehlt, nur mit Begriffen umschrieben werden kann, die ihre Herkunft aus dem Deutschen Idealismus nicht leugnen, so darf das, Habermas zufolge, noch lange nicht als ein philosophischer Repristinationsversuch mißverstanden werden, der die Transzendentalphilosophie als 'prima philosophia' rehabilitieren will. Aus den Blickwinkeln der Erkenntnistheorie gesehen ist die Evolutionstheorie, deren letztes Gebot das formal–logische Prinzip des tertium non datur ist, in der Tat vor–kritisch, aber der Transzendentalphilosoph, der sich nur mit Urteilen dieses Types abgibt, versteift sich auf eine 'Wissensform', die nicht weniger als die technisch–verfügenden Wissenschaften eine soziologisch angebbare Funktion ausübt. Wer sich der »vergessenen Erfahrung der Reflexion«[273] vergewissern will, muß sich den Zugang zu jener Dimension des Wissens wieder erschließen, die philosophiegeschichtlich mit Kants Kritik der reinen Vernunft anhebt[274], darf sich aber währenddessen nicht der Einsicht verschließen, daß die bisherige Philosophie nur auf ihre Weise die Existenz einer objektiven gesellschaftlichen Krise resignativ–kontemplativ verdrängt hat, d.h. keine wirkliche Alternative zum Szientismus darstellt, sondern ihn eher durch eine gattungsgeschichtlich ältere Form des Verdrängens ergänzt. Eine 'radikalisierte Erkenntnistheorie' bemächtigt sich, über Kant, Hegel und Marx, der 'verlorenen Erfahrung der Reflexion', aber die 'transformierte' Transzendentalphilosophie, die daraus resultiert, zielt nicht auf Projektionen vom Typus des 'Transzendentalsubjekts', sondern auf eine Reformulierung der Widerspruchs–, Abstraktions– und Antagonismuslehre als Krisentheorie. Eine Krisentheorie, die freilich so umfassend ist, daß sie dem reaktionären und mystisch–destruktiven Schleier eines universal gewordenen Objektivismus – seinen verheerenden psychologischen Auswirkungen nicht weniger als seiner Verfilzung mit dem, was bei Adorno Destruktivkräfte heißt – ebensosehr Rechnung tragen kann, wie dem, was das Wissenschaftssystem jetzt objektiv ermöglicht hat: daß jener Schrecken, den es selbst erst in die Welt gesetzt hat, ein Ende haben könnte.
3. 'Aufklärung' und 'politische Praxis': Eine nicht–szientifische Systemtheorie und eine 'transformierte' Transzendentalphilosophie sind imstande, die heutige Welt so zu erhellen, daß die Krise der Moderne nicht nur philosophisch–kontemplativ (z.B. im Sinne der ontologischen Daseinsanalyse) verstanden, sondern objektiv erklärt werden kann – eine Erklärung über gesamtgesellschaftliche Prozesse, die sich wiederum in praktisch–politische Zielsetzungen konkretisieren ließe. So könnte jene Hoffnung zusammengefaßt werden, die ein 'rekonstruierter' Historischer Materialismus trotz allem immerhin noch verkörpert.
»Die Theorie der Gesellschaft ist aus der Philosophie entsprungen, während sie zugleich deren Fragestellungen umzufunktionieren trachtet, indem sie die Gesellschaft als jenes Substrat bestimmt, das der traditionellen Philosophie ewige Wesenheiten hieß oder Geist. Wie die Philosophie dem Trug der Erscheinungen mißtraute und auf Deutung aus war, so mißtraut die Theorie desto gründlicher der Fassade der Gesellschaft, je glatter diese sich darbietet. Theorie will benennen, was insgeheim das Getriebe zusammenhält. Die Sehnsucht des Gedankens, dem einmal die Sinnlosigkeit dessen, was bloß ist, unerträglich war, hat sich säkularisiert in dem Drang zur Entzauberung. Sie möchte den Stein aufheben, unter dem das Unwesen brütet[...]«[275]
II.4 Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus
Bis hierher habe ich einzelne Aspekte der komplexen Auseinandersetzung mit dem überlieferten Dialektikbegriff aufgenommen, um daran zu erinnern, daß in dieser Argumentationslinie, an deren Ende Habermas steht:
1) die Erfahrung der Reflexion, die geistesgeschichtlich (von Ansätzen in der Antike abgesehen) erstmals bei Kant und Hegel in der Form einer phänomenologischen 'Bewußtmachung' der allgemeinsten 'kategorialen Bestimmungen' des Denkens explizit thematisiert wurde, in der Nachfolge (sozusagen von Lukács bis Horkheimer) sich immer eindeutiger auf den Kausalitätsbegriff (im Sinne einer 'Kritik der instrumentellen Vernunft') bezieht;
2) dieses Kausalitätsdenken (in Habermas' Terminologie: die 'objektivierende Grundeinstellung zur Welt'), das einerseits als eine gesellschaftlich notwendige, der Selbsterhaltung dienende, innerhalb eines kontingenten Sozialisationsprozesses erworbene synthetische Leistung des Subjekts aufgefaßt wird, andererseits aber als Inbegriff und wahrer Grund der menschlichen Entfremdung im Spätkapitalismus schlechthin behandelt wird, nämlich als Manifestation einer universal gewordenen objektivistisch–technokratischen Ideologie – als 'Bann' sui generis (Adorno);
3) die Suche nach den allgemeinsten 'kategorialen Bestimmungen des Denkens', die nicht – in betonter Distanzierung zu sämtlichen empiristischen, rationalistischen und existentialistischen Strömungen auch im Marxismus – als formale Logik, Wissenschaftstheorie, Antinomienlehre oder Welterklärung betrachtet wird, sondern eher als das, was bei den Klassikern noch eine 'Bewegung des Begriffs' hieß[276], d.h. als eine 'interne', vom Subjekt selbst zu vollziehende Befreiung von internalisiertem Zwang;
4) das Subjekt, das sich in dieser 'internen' ('dialektischen') Emanzipation von Pseudo–Aprioris befinden soll, und das nicht länger wie im deutschen Idealismus, als ein diese Emanzipation bloß 'privat' vollziehendes Einzelindividuum aufgefaßt wird, sondern eher als ein – sich in einem geschichtlichen Befreiungsprozeß befindendes – kollektives, politisch reales Makrosubjekt. Das Endresultat der Philosophie ist nicht mehr die Verinnerlichung im Sinne des bürgerlichen Bildungsideals, sondern das Wissen um den realen Antagonismus des Geschichtsprozesses.
Die Dialektik bezieht sich – um es in der älteren Terminologie zusammenzufassen – auf das Subjekt und auf das Objekt der Erkenntnis gleichermaßen[277].
Bei Habermas selbst haben sich nun all diese Momente in zwei Schwerpunkten verdichtet (Erkenntnistheorie und Realgeschichte), die erst in ihren wechselseitigen Beziehungen zueinander verraten, was hier 'Dialektik' heißen könnte. Wo bei Habermas anzusetzen ist, ist eher eine maeutische als eine prinzipielle Frage; die eine leitet in die andere über[278]. Die Erkenntnistheorie nimmt bei ihm ihren Ausgangspunkt vom heutigen Stand der Wissenschaftstheorie und der Forschungslogik: sie zielt auf jene allgemeinsten Präsuppositionen der Forschungspraxis, die so tief in der europäischen Denktradition verankert sind, daß sie für die Mehrzahl der Sozialwissenschaftler (Soziologen, Ökonomen, Historiker, Psychologen und Anthropologen) zu einer communis opinio geworden sind – z.B. das Wertfreiheitspostulat oder der Begriff der Faktizität, das Prinzip der Widerspruchslosigkeit, vollends der Begriff der Verständigung. Sie zielt damit auf nichts weniger als den modernen Wahrheitsbegriff als solchen. Das ist der bei Habermas erreichte Stand der Idealismuskritik: es geht ihm um den Beweis, daß dieses »im Wissenschaftsbetrieb institutionalisierte Verstandesdenken«[279] eine Blindheit ist – eine methodisch herbeigeführte »restringierte Erfahrung«[280] –, die die »historischen Bewegungsgesetze«[281] dieser Welt nicht wahr haben will. Nur das Wissenschaftssystem ist imstande, die Welt so darzustellen, wie sie objektiv ist, aber was es uns darbietet, ist keine Darstellung der Welt 'an sich', sondern bloß ihre geschichtlich vermittelte Erscheinungsform: eine subjektive Verdoppelung des bloß Seienden – und nicht 'die Sache selbst'. Eine solche Ausdrucksweise ist noch nicht die von Habermas, aber sie schärft den Blick für die qualitativ neuen Motive, die Habermas, sozusagen als philosophisches Formgesetz, in die Sprachphilosophie und die Kommunikationstheorie hinein gebracht hat, um dort diesen klassischen Topos aus der Subjekt/Objekt–Philosophie wieder neu zu thematisieren: die Kritik am subjektiven und objektiven Solipsismus, an dem, was bei Hegel das »abgesonderte Fürsichsein« heißt[282].
Es geht ihm, als Philosoph, um eine immanente Kritik an jener erkenntnistheoretischen Attitüde, die den Kern des neuzeitlichen wissenschaftlichen Denkens schlechthin ausmacht und im Wissenschaftssystem zu einer 'zweiten Natur' sich verselbständigt hat – zur 'objektivierenden Grundeinstellung zur Welt'. In dieser Formulierung meldet sich aber nicht nur die philosophische Kritik an dem an, was bei Hegel 'Verstandesdenken' und bei Marx 'Ideologie' heißt, sondern auch neue, bei den Klassikern kaum vorstellbare Akzentuierungen: jenes Subjekt, dessen erkenntnistheoretische Konstitutionsleistungen wie zuvor im Mittelpunkt der philosophischen Kritik stehen[283], wird jetzt nicht länger als ein transzendentales, zu einem teleologisch verbürgten Endpunkt hin sich bewegendes Wesen gefaßt, sondern als ein biologisches, sterbliches Geschöpf, dessen Identifikationen und 'Interaktionskompetenzen' im Zeichen der individuellen und kollektiven Selbsterhaltung (und u.U.: Selbstzerstörung) stehen[284]. Es wäre vielleicht so auszudrücken: Habermas' Kritik am etablierten soziologischen Methodenverständnis erneuert zentrale Themen aus der Erkenntnistheorie, der Phänomenologie und der philosophischen Hermeneutik, aber was diese 'transformierte Transzendentalphilosophie' will, ist keine Restauration der 'traditionellen' Philosophie, sondern einen 'Paradigmenwechsel'[285], und zwar zu jener Seinssphäre, deren kategoriale Ausblendung dem Materialismus zufolge eigentlich das Prinzip der 'reinen' Philosophie von Anfang an war: zur Empirie[286]. Das ist die Konsequenz, die auch Habermas aus dem Faktum gezogen hat, daß jene 'letzte' Instanz, die die Erkenntnistheorie seit Kant als 'begründendes Agens' für die Allgemeingültigkeit von 'synthetischen Urteilen a priori' angibt, selbst nur als innerweltliche (kantisch: 'in' Raum und Zeit) vorgestellt werden kann; das endliche Subjekt ist, um es in einem von Adorno zitierten Husserlschen Wort auszudrücken, selbst »ein Stück Welt«[287] und das schließt gerade das ein, was bei Kant das transzendentale 'Ich denke' heißt. Erst dies erklärt, wie sich bei Habermas die empirische Theorie der sozialen Evolution zur Wissenschaftstheorie verhält: sie 'fundiert' diese und ist gleichzeitig als ihre Aufhebung, Fortführung und Kritik gedacht – die philosophiegeschichtliche Analogie ist dann auch das Verhältnis der Marxschen Wertlehre zu Hegels Logik. Erst wer dies bemerkt hat, hat jenes tiefgründige Motiv erblickt, welches darauf drängt, sich mit der Anthropologie, der Sozialisationsforschung und der Linguistik inhaltlich auseinanderzusetzen was sonst aus der Sicht der formalen Logik oder Ethik oder des orthodoxen Marxismus sinnlos erscheinen und auf Unverständnis stoßen muß[288]. Denn diese Beschäftigung ist nicht als Abkehr von der Erkenntnistheorie gedacht, sondern umgekehrt: als ihre konsequente Durchführung[289]; als eine empirische Untersuchung von kollektiven Identitätsprozessen und ihrer geschichtlichen Dynamik[290]. Und zwar mit dem Hintergedanken, daß die Gretchenfrage: ob moderne Gesellschaften eine 'vernünftige' Identität ausbilden können (weniger äsopisch: ob Krieg die ultima ratio dieser Welt bleiben wird), innerphilosophisch (von Seiten der formalen Philosophie aus) nicht einmal gestellt, geschweige denn diskutiert oder gar beantwortet werden kann[291].
Ist der Ausgangspunkt nicht Wissenschaftstheorie, sondern Realgeschichte und Evolutionstheorie, dann geht die Argumentation (diesmal von der soziologischen Seite aus) in die andere Richtung. Alle maßgebenden, sich mit der Gattungsgeschichte 'insgesamt' auseinandersetzenden Theorien – der Marxismus, der (soziologische) Funktionalismus, der Neoevolutionismus, der Weberianismus – haben das gemeinsame (und in der Historik klassische[292]) Problem, daß sie für das jeweils eingeführte Periodisierungsschema keine systematische Begründung angeben können: die vertrackte Debatte für und wider die fünf von Marx vorgeschlagenen Produktionsweisen hat durchaus ihr Korrelat auch im Funktionalismus und der Anthropologie[293]. Das ist ein Paradox, das Habermas auf eine vergleichbare Weise behandelt wie einst Lukács die Antinomien des Kantischen 'Dings an sich'; aus dem Vorhandensein von hartnäckigen logischen Widersprüchen wird der Rückschluß gezogen: es sind reale (d.h. geschichtliche) Widersprüche und keine logischen[294]. »Des realen Widerspruchs gewahr werden« bedeutet bei Habermas aber etwas anderes als bei Marx oder den Hegelmarxisten. Wie dies mit der Periodisierungsproblematik zusammenhängt, verdient eine genauere Betrachtung: das Neue bei ihm ist gerade eine Verquickung von empirischer Kommunikationstheorie und dem, was bei Hegel 'Phänomenologie' heißt.
II.4.1 Empirische Sozialforschung als phänomenologische Bewußtmachung eines verdinglichten Erkenntnisapparats – Philosophiegeschichtliche Vorbemerkung
Beim Versuch, das Hegelsche System zu 'entmystifizieren', muß Marx sich mit jenen beiden 'Welten' in Beziehung setzen, die bei Kant die phänomenale und noumenale heißen und die bei Hegel in der paradoxen Konstruktion einer sich 'verwirklichenden' Vernunft (als 'Vernünftigwerden der Wirklichkeit') wiederkehren: die unter Naturgesetze subsumierte Dingwelt und jene Sphäre, in der das Subjekt sich seiner Identität durch die freie Anerkennung des Sittengesetzes versichert. Marx kann sich dieser Aufgabe kaum entziehen, denn (a) ohne die 'dinghaft–empirische' Seite der Analyse bliebe nur noch jener leere Formalismus übrig, den Hegel als konkrete Gestalt der Entfremdung gerade erst nachgewiesen hat, während umgekehrt (b) ohne die vereinheitlichende 'moralisch–praktische' Seite der Analyse (»Reich der Freiheit«) diese zu einer sinnlosen Auflistung des bloß faktisch Vorhandenen verkümmern muß – zu einem bloß »dogmatischen Materialismus«. Die Frage nach dem Verhältnis zwischen diesen zwei 'Welten' kehrt bei Marx im Vexierbild einer »Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen« wieder, denn die 'Wechselwirkung' von »Basis« und »Überbau« in der Geschichte kann sowohl im Sinne eines Spezialfalles des allgemeinen (wie in den Naturwissenschaften gehandhabten) Kausalgesetzes gedeutet werden (so die an den Antidühring sich anschließende Interpretation), als auch in jenem (sich an Lukács und die Hegelmarxisten anschließenden) Sinne: daß beim Versuch, die beobachtbare Mannigfaltigkeit 'unserer' empirischen Erscheinungswelt zu 'begreifen', es letztendlich die ökonomische Struktur ist, die für das Unwesen in dieser krisenerschütterten Welt 'verantwortlich' ist. Die Marxsche 'Dialektik' kann bekanntlich als beides gedeutet werden: als methodisches Prinzip für die empirische Sozialforschung und als praktisch–politische Krisendiagnostik. Für Marx selber ist diese Doppeldeutigkeit nicht nur kein Problem, sondern gerade der Schlüssel zur Überwindung des 'kontemplativ–abstrakten' Denkens, denn solange er diese Doppeldeutigkeit des Hegelschen Systems beibehalten kann (das Subjekt ist gleichzeitig ein empirisches und ein transzendentales Wesen), ergänzen sich die wissenschaftliche Analyse der sozialen Evolution und das politisch–revolutionäre Engagement des »Proletariats« wechselseitig. In dem Wissen um den Geschichtsprozeß vergewissert sich das Proletariat nämlich beidem: der geschichtswissenschaftlichen Erklärung für seine eigene 'Formation' und Existenz (Massenarbeitslosigkeit, Kriegsgefahr und Krise als objektive Folge des Privateigentums) und der Gewißheit, daß derselbe Geschichts– und Evolutionsprozeß, der zu dieser geschichtlichen Lage geführt hat, seinen – des Proletariats – Sieg im revolutionären Kampf verbürgen wird. Von daher rührt jene Konstruktion eines »identischen Subjekt/Objekts der Geschichte«, das noch das Denken des frühen Lukács beherrscht[295]: eine 'Identität' von Denken und Tun, die die Antinomien der 'traditionellen' Theorie aufheben will.
Für die Generation der Intellektuellen, die die Weltkriege mit– und überlebt haben und die die schicksalhafte Bedeutung der Aufteilung der Welt in antagonistische Machtblöcke vor Augen hatten, ist nun gerade dieses Kernstück der 'Dialektik', diese 'Einheit' von Theorie und Praxis – von empirischer Sozialforschung und befreiender Politik – fragwürdig geworden: dies ist, in nuce, die geschichtliche Erfahrung, die die 'kritische Theorie' verarbeiten mußte[296]. Die Sozial– und Geisteswissenschaften haben sich – vom Beispiel der Naturwissenschaften geleitet – von aller geschichtsphilosophischen Systematik losgelöst und als autonome Disziplinen etabliert; darin wäre vielleicht noch der realgeschichtliche Sinn des 'Wertfreiheitspostulats' zu erblicken. Wenn das philosophische Bewußtsein seinerseits auf diese Autonomisierung und Zerspaltung mit einem 'Nominalismusverdikt' reagiert[297], dann bringt es damit zwar ein durchaus berechtigtes Unbehagen an eben dieser geistigen (und realen) Situation zum Ausdruck, kann sich aber des Verdachts auch nicht erwehren, daß jener positiv gefärbte Begriff eines geschichtlichen Makrosubjekts, an dem die ältere Generation sich orientierte, selbst noch ein Stück Mythos war – sozusagen das letzte Refugium der Epiphanie[298]. Anders als die frühere Generation der 'Frankfurter Schule' nimmt Habermas diesen Verdacht nicht zum Anlaß, um sich von der Gesellschaftstheorie zurückzuziehen, sondern sieht darin erst recht einen Grund für die intensive Auseinandersetzung mit ihr[299]. Ich will anhand seiner Diskussion der Periodisierungsproblematik zeigen, mit welchen Motiven er dies nun tut.
II.4.2 Basis/Überbau: was ist eine Produktionsweise?
»Die berühmteste Formulierung des Überbautheorems lautet: 'In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt, und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt. Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt.' In jeder Gesellschaft bilden Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse, nach Maßgabe der in ihr herrschenden Produktionsweise, eine ökonomische Struktur, von der alle übrigen Teilsysteme der Gesellschaft bestimmt werden. Lange Zeit hat sich eine ökonomistische Fassung dieses Theorems behauptet. Dieser Interpretation zufolge gliedert sich jede Gesellschaft (je nach dem Grad ihrer Komplexität) in Teilsysteme, die sich hierarchisch in der Reihenfolge des ökonomischen, des administrativ–politischen, des sozialen und des kulturellen Bereichs anordnen lassen. Das Theorem besagt dann, daß Prozesse der höheren Teilsysteme von Prozessen der jeweils niedrigeren Teilsysteme im Sinne kausaler Abhängigkeit determiniert sind. Eine schwächere Fassung dieser These behauptet, daß die niedrigeren Teilsysteme die Abläufe in den jeweils höheren strukturell beschränken; so bestimmt das ökonomische System 'in letzter Instanz', wie Engels sich ausdrückt, den Spielraum der in den anderen Teilsystemen möglichen Abläufe. Bei Plechanow finden sich Formulierungen, die die erste Deutung, bei Labriola und Max Adler Textstellen, die die zweite Interpretation stützen. Bei Hegelmarxisten wie Lukács, Korsch, Adorno verbietet der Begriff der gesellschaftlichen Totalität ein Schichtenmodell; hier nimmt das Überbautheorem die Form an, daß eine Art konzentrische Abhängigikeit aller gesellschaftlichen Erscheinungen von der ökonomischen Struktur besteht, wobei diese dialektisch als das Wesen begriffen wird, das in den beobachtbaren Erscheinungen zur Existenz gelangt.«[300]
Die 'Dialektik' von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen ist u.a. ein Konzept, das eine entwicklungslogische Einordnung des Materials aus der Historik und der Anthropologie ermöglichen soll; die Vorzüge zeigen sich im Vergleich zu anderen Periodisierungsversuchen:
»So gibt es Periodisierungsvorschläge, die die Hauptmaterialien, die bearbeitet werden (von Stein, Bronze und Eisen bis zu den Kunststoffen der Gegenwart), oder die wichtigsten Energiequellen, die ausgebeutet werden (von Feuer, Wasser und Wind bis zur Atom– und Sonnenenergie), zugrunde legen. Aber der Versuch, in diesen Sequenzen ein Entwicklungsmuster zu entdecken, führt alsbald zu den Techniken der Bearbeitung und der Erschließung der natürlichen Ressourcen. Für die Geschichte der Technik scheint sich ein Entwicklungsmuster in der Tat anzubieten. Jedenfalls fügt sich die technische Entwicklung der Interpretation, als hätten die Menschen die elementaren Bestandteile des Funktionskreises zweckrationalen Handelns, der zunächst am menschlichen Organismus festsitzt, der Reihe nach auf die Ebene technischer Mittel projiziert und sich selbst von den entsprechenden Funktionen entlastet – von der Funktionen des Bewegungsapparats (Beine und Hände) zuerst, dann von der Energieerzeugung des menschlichen Körpers und schließlich von den Funktionen des Sinnesapparats (Augen, Ohren, Haut) und des Gehirns. Hinter die Ebene der Technikgeschichte läßt sich freilich noch zurückgehen auf die Entwicklungsgeschichte [...]. Für diese kognitive Entwicklung hat Piaget auf ontogenetischer Ebene eine universale Entwicklungssequenz vom präoperationalen über das konkret–operationale zum formal–operationalen Denken nachgewiesen. Wahrscheinlich ist die Technikgeschichte mit den großen evolutionären Schüben der Gesellschaft über die Evolution der Weltbilder verknüpft; und diese Verbindung dürfte wiederum über formale Strukturen des Denkens zu erklären sein, für deren entwicklungslogische Anordnung die kognitivistische Psychologie ein hinreichend untersuchtes ontogenetisches Modell anbietet. Allerdings haben, seit der 'neolithischen Revolution', die großen technischen Erfindungen neue Epochen nicht herbeigeführt, sondern lediglich begleitet; eine wie immer auch rational nachkonstruierbare Geschichte der Technik eignet sich nicht zur Abgrenzung von Gesellschaftsformationen. Der Begriff der Produktionsweise trägt dem Umstand Rechnung, daß die Entfaltung der Produktivkräfte zwar eine wichtige, aber für die Periodisierung nicht die ausschlaggebende Dimension der gesellschaftlichen Entwicklung ist.«[301]
Habermas erwähnt weitere Periodisierungsvorschläge: z.B. den, der die Geschichte nach der realen Entwicklung von Kooperations– oder Organisationsformen einteilt (vom Familienbetrieb, Manufaktur, über die Fabrik bis zu den autarken multinationalen Großkonzernen der Gegenwart) oder den, der sich nach der Entwicklung des Marktes richtet.
Alle haben aber die entscheidende Schwäche, daß sie die innovativen Änderungen im Modus der sozialen Integration ausblenden – die eo ipso im Persönlichkeitssystem verankert werden müssen und deshalb nur über die Internalisierung von Weltbildern hätten stattfinden können. Der Vorzug im Begriff der 'Produktionsverhältnisse' liegt gerade darin, daß er den geschichtlich sich ändernden Formen dieser 'subjektiven' Integration Rechnung trägt:
»Diese Entwicklungen [von Kooperationsformen oder des Marktes – F.v.G.] steigern die Komplexität der gesellschaftlichen Organisation; aber keinem dieser Phänomene steht an der Stirn geschrieben, wann eine neue Organisationsform, ein neues Kommunikationsmedium, eine neue funktionale Spezifizierung die Entfaltung von Produktivkräften bedeutet – eine gesteigerte Verfügungsgewalt über die äußere Natur, und wann sie der Repression der inneren Natur dient und als Bestandteil der Produktionsverhältnisse begriffen werden muß. Daher ist es informativer, die verschiedenen Produktionsweisen direkt über die Produktionsverhältnisse zu bestimmen und die Veränderungen der Komplexität einer Gesellschaft in Abhängigkeit von ihrer Produktionsweise zu analysieren.«[302]
Gerade die Anwendung dieses Begriffs führt zu Aporien – das ist der Ausgangspunkt seiner Überlegungen. Der entscheidende Gesichtspunkt soll sein: »wie der Zugang zu den Produktionsmitteln reguliert wird«[303]. Das ergibt dann die sechs (bei Marx: fünf) bekannten Produktionsweisen, die entwicklungslogisch aufeinander folgen sollen:
1. primitive Gesellschaften, in denen Arbeit und Distribution über das Verwandtschaftssystem reguliert werden;
2. staatlich organisierte Gesellschaften, in denen (a) die Ökonomie von Priesterschaft, Bürokratie und Militär verwaltet wird (asiatische Produktionsweise) oder (b) (in mehreren mediterranen Gesellschaften) private Grundbesitzer ihre Stellung als despotische Herrscher über die häusliche (Sklaven–)Wirtschaft mit der Stellung eines freien Bürgers in der politischen Gemeinschaft von Stadt oder Staat vereinen (antike Produktionsweise);
3. feudale, auf Großgrundbesitz und Lehnsherrschaft beruhende Gesellschaften;
4. kapitalistische Gesellschaften, in denen die Ökonomie (über die Ausdifferenzierung einer vom politischen System abgekoppelten bürgerlichen Privatsphäre, die formale Befreiung der Arbeiter, die Etablierung eines Marktes, die Akkumulation von Privateigentum und Kapital) in die Dienste der Eigentümer der Produktionsmittel tritt;
5. der Sozialismus, in dem die Ökonomie statt den Imperativen der Mehrwertakkumulation den freien Willensbildungsprozessen einer mündigen Menschheit gehorchen soll.
Was diese Geschichtskonstruktion von beliebig anderen, von Comtes Drei–Stadiengesetz bis zu den neoklassischen ökonomischen Wachstumsmodellen der Gegenwart[304], unterscheidet, ist zweierlei:
i) im Begriff der 'Produktionsverhältnisse' ist die These enthalten, daß die 'qualitativen Übergänge' in der Geschichte mit fundamentalen Änderungen im menschlichen Sozialisationsprozeß verbunden sind, die (vom modernen Subjekt, sozusagen rückblickend auf seine eigene Entstehungsgeschichte) an den Änderungen in den Weltbildern verfolgt werden können[305];
ii) die Überzeugung, daß solche Geschichtskonstruktionen nicht abstrakt, 'von außen' an das Material der Völkerkunde, Historik und Anthropologie herangebracht werden dürfen, sondern der internen Entfaltung der Gattungsevolution selber Rechnung tragen müssen. D.h. die Abfolge der 'Produktionsweisen' muß in diesem Sinne eine 'rationale Rekonstruktion' ermöglichen, insofern die Gründe für die Entwicklung vom einen zum nächsten Stadium (Marx: die 'realen' Widersprüche) ersichtlich werden.
Gerade diese zwei Thesen sind von der anthropologischen und historischen Forschung nicht ohne weiteres bestätigt worden. Habermas nennt sechs Problemkomplexe:
a) Der Begriff einer urgemeinschaftlichen Produktionsweise ist von neueren Erkenntnissen über die sog. 'neolithische Revolution'[306](Übergang vom Paleolithikum zum Neolithikum, von einer Jäger– und Sammler–Existenz zu Ackerbau und Viehzucht) stark problematisiert worden. Nicht nur sind die jeweiligen Produktionsmittel qualitativ verschieden, sondern scheinbar auch die Produktionsverhältnisse: es gibt Grund zur Vermutung: »daß die technischen Innovationen, die den Übergang zur neolithischen Gesellschaft markieren, von der kohärenten Ausbildung mythischer Weltbilder abhängen«[307]; d.h. von jener Sphäre, die von Marx dem Überbau zugerechnet wird.
b) Zu der sog. asiatischen Produktionsweise gibt er zu bedenken: »Soll diese Produktionsweise noch dem letzten Stadium der Urgemeinschaftsordnung zugerechnet oder als die erste Form der Klassengesellschaft begriffen werden?«[308] Wenn die zweite Alternative zutrifft: »[...] bezeichnet in diesem Falle die asiatische Produktionsweise eine universale Entwicklungsstufe oder eine spezielle Entwicklungslinie von Klassengesellschaften neben dem Weg der antiken Produktionsweise? Oder ist sie eine Mischform aus antiker und feudaler Produktionsweise?«[309]
c) Ähnlich verhält es sich mit dem Begriff des Feudalismus: »Handelt es sich dabei überhaupt um eine eindeutig bestimmbare Produktionsweise oder um einen analytisch anspruchslosen Sammelbegriff? Wenn es eine eigenständige Produktionsweise dieser Art gibt, bezeichnet sie eine universale Entwicklungsstufe? Wenn ja, hat nur die Gesellschaft des mittelalterlichen Europas diese Stufe erreicht, ist, mit anderen Worten, der Feudalismus eine einzigartige Erscheinung, oder haben auch die anderen Hochkulturen feudalistische Entwicklungsstufen erreicht?«[310]
d) Wie sollen die archaischen Gesellschaften überhaupt von den entwickelten Hochkulturen unterschieden werden? Beide sind, per definitionem, politische Klassengesellschaften, weisen aber nicht nur eine verwirrende Vielfalt von ökonomischen und politischen Institutionen auf, sondern auch tiefgreifende Änderungen auf der Ebene der Weltbildrationalisierung: Es »[...] hat sich in allen evolutionär erfolgreichen Hochkulturen ein bemerkenswerter struktureller Wandel des Weltbildes vollzogen – der Wandel von einem mythologisch–kosmogonischen Weltbild zu einem in Form kosmologischer Ethiken rationalisierten Weltbild. Dieser Wandel vollzieht sich zwischen dem 8. und dem 3. Jahrhundert in China, Indien, Palästina und Griechenland. Wie läßt er sich materialistisch erklären?«[311]
e) Bezeichnet für die modernen Gesellschaften: »[...] der staatsinterventionistisch geregelte Kapitalismus in den entwickelten Industrieländern des Westens die letzte Phase der alten oder den Übergang zu einer neuen Produktionsweise«?[312]
f) Zu den sog. sozialistischen Übergangsgesellschaften fragt er: »Ist der bürokratische Sozialismus im Vergleich mit dem entwickelten Kapitalismus überhaupt eine evolutionär höhere Gesellschaftsformation, oder handelt es sich um Varianten derselben Entwicklungsstufe?«[313]
Was an diesem Zusammenhang interessiert, sind weniger diese, aus der Literatur wohlbekannten Probleme der Marxschen Geschichtsphilosophie, als die Schlüsse, die Habermas daraus zieht, und die Richtung, die er einschlägt. Sein Fazit ist eindeutig und knapp:
»Der Begriff der Produktionsweise ist nicht abstrakt genug, um die Universalien gesellschaftlicher Entwicklungsniveaus zu treffen.« (ibid.)
Nicht auszuschließen ist, »[...] daß die anthropologisch–historischen Forschungen eines Tages dazu nötigen könnten«, das Konzept der Gattungsgeschichte überhaupt preiszugeben. (ibid.) Der Weg, den er einschlagen möchte,
»[...] weist in die Richtung einer noch stärkeren Generalisierung, nämlich der Suche nach hochabstrakten gesellschaftlichen Organisationsprinzipien. Unter Organisationsprinzipien verstehe ich diejenigen Innovationen, die durch entwicklungslogisch nachkonstruierbare Lernschritte möglich werden und die ein jeweils neues Lernniveau der Gesellschaft institutionalisieren. Das Organisationsprinzip einer Gesellschaft umschreibt Möglichkeitsspielräume; insbesondere legt es fest, innerhalb welcher Strukturen Wandlungen des Institutionensystems möglich sind; in welchem Umfang vorhandene Produktivkraftkapazitäten gesellschaftlich genutzt bzw. die Entfaltung neuer Produktivkräfte stimuliert werden kann; und damit auch: wie weit Systemkomplexität und Steuerungsleistungen gesteigert werden können. Ein Organisationsprinzip besteht aus so abstrakten Regelungen, daß in der von ihm festgelegten Gesellschaftsformation mehrere funktional äquivalente Produktionsweisen zugelassen sind. Die ökonomische Struktur einer Gesellschaft müßte demnach auf zwei analytischen Ebenen untersucht werden: zunächst in terms der Produktionsweisen, die in ihr eine konkrete Verbindung eingegangen sind; und dann in terms derjenigen Gesellschaftsformation, der die jeweils herrschende Produktionsweise angehört. [...] Gesellschaftliche Organisationsprinzipien lassen sich, in einem ersten Anlauf, durch den institutionellen Kern charakterisieren, der die jeweils dominante Form der sozialen Integration festlegt.«[314]
Worin unterscheidet sich nun dieser Begriff eines gesellschaftlichen Organisationsprinzips[315] vom Marxschen Begriff einer Produktionsweise? Die Gemeinsamkeiten liegen auf der Hand: beide Begriffe suchen nach einer objektiven Erklärung für gesamtgesellschaftliche Prozesse; nach einer Erklärung für jenes Zusammenspiel von Klassenformationen und Weltbildänderungen, Institutionalisierungs– und Sozialisationsprozessen, Kriegen und Krisen, die in ihrer Gesamtheit jenes Ganze ausmachen, das nach dem Sturz der metaphysischen Systeme als 'Geschichte' zurückbleibt. Beide Begriffe drücken eine so grundlegende Skepsis dem zeitgenössischen Wissenschafts– und Theorieverständnis gegenüber aus, daß selbst noch ein Ausdruck wie 'nach einer Erklärung suchen' zweideutig wird: nicht die Gründung eines neuen geistesgeschichtlichen Fachs ist damit gemeint. Beide Begriffe zeugen von einem Bewußtsein, das die Welt auf zweifache Weise negiert: sie wenden sich gegen eine offizielle Ratio, die die reale Krisenhaftigkeit der Welt nur lärmend verschleiert, und wollen zur selben Zeit mehr sein als eine 'nur' schonungslose Beschreibung jenes faktischen Chaos, das der Idealismus wiederum prinzipiell verneint.
Die wirklichen Differenzen lassen sich, so scheint es mir, am ehesten dadurch erläutern, daß die jeweiligen Gegenpositionen betrachtet werden.
Marx erblickt seinen (intellektuellen) Gegner in der 'bürgerlichen' Ökonomie: er glaubt, in dem Widerspruch zwischen jenen harmonischen 'Natur'gesetzen, die (dem Liberalismus zufolge) die Welt erklären sollen, und dem realen Elend der Arbeiterklasse den Hebel gefunden zu haben, der ihm auf doppelter Weise dienlich sein soll. Als Argument dient dieser Widerspruch dazu, die Seichtigkeit der liberalistischen Weltanschauung bloßzustellen, während er als Realität den Schlüssel zum Verständnis der objektiven Geschichtsdynamik darstellt; denn er weist (wenn auch indirekt: intentio obliqua) zurück auf jene unversöhnlichen Klassengegensätze, die die wirkliche Welt bestimmen. Auch hier läßt sich, wie der frühe Lukács zeigte, das Leitbild der 'bestimmten Negation' verfolgen: die bürgerliche Ökonomie (als Wissenschaft) ist nach Marx kein Wahngebilde ganz und gar, sondern enthält einen rationalen Kern – der bürgerliche Ökonom ist objektiv imstande, zum wahren Bewußtsein der Wirklichkeit zu gelangen, aber nur indem er die falsche Abstraktheit seiner Wissenschaft als eine Verschleierung von realen (Klassen)Interessen durchschaut, letztendlich auch seiner eigenen[316]. Ersetzt man hier 'Klasseninteresse' durch 'Begierde' und 'Ökonomie' durch 'Verstand' dann ist die Hegelsche Dialektik von reinem Bewußtsein, Begierde und Bewußtsein des Fürsichseins ohne weiteres erkennbar[317]. Wie bei Hegel, so ist auch bei Marx das Ausschlaggebende, das wirklich Überzeugende an dieser Kritik nicht so sehr das Argument, sondern die Realität: die ultima ratio ist das Proletariat und die Geschichte, eine Wahrheit die der bürgerliche Gelehrte noch erfahren wird – so oder so, als Ergebnis subjektiver Einsicht oder als 'höhere' Gewalt. Oder anders ausgedrückt: die 'bestimmte Negation' ist gleichzeitig Kritik und Wirklichkeit, Argument und Geschichtsprozeß, Vernunft und Substanz[318].
Diese beiden Seiten der 'Dialektik' (als Kritik und als Wirklichkeit) sind auch bei Habermas wieder (oder noch) vorhanden[319], und in gewissem Sinne ist auch der Gegner noch der von ehedem: die empirischen Wissenschaften 'insgesamt'. Auch im Habermasschen Werk ist es unerläßlich, die wechselseitige Verknüpfung von Wissenschaftskritik und Realgeschichte als einzelne Momente einer Gesamtkonstruktion zu begreifen, die auf so etwas wie eine 'materialistische' Synthesis zielt. Auch bei ihm wäre es dann verfehlt, eine 'reine' Soziologie oder eine 'reine' Erkenntnistheorie zu verlangen, denn seine ganze Anstrengung gilt dem Beweis der objektiven Vermittlung von beiden, gilt – in der älteren Sprache – der Vermittlung von 'Form' und 'Inhalt' des Denkens, gilt dem Beweis, daß die strikte (neokantische) Trennung zwischen Logik und Geschichte sich nicht durchhalten läßt[320].
Der entscheidende Unterschied zwischen Marx und Habermas ist anderswo aufzuspüren, und zwar in der Einstellung zur Realgeschichte. Bei Marx ist der Kern der Hegelschen Reflexionsphilosophie, die Lehre von der Identität von Wesen und Sein, von Subjekt und Objekt, keineswegs restlos verschwunden – trotz der Polemik gegen den Idealismus. Sie ist noch, wenn auch abgeschwächt, in der Lehre von der 'Dialektik in der Geschichte' enthalten[321]. Vom Begriff eines 'geschichtlichen Bewegungsgesetzes' ist – wie von der Hegelschen 'Identitätsthese' –, das teleologisch–utopische Moment schwerlich wegzudenken: die Abfolge von Produktionsweisen in der Geschichte ist für Marx keine bloße Chronologie des Geschehenen – keine Historie im üblichen Sinne –, sondern auch ein Beweis für die Unaufhaltbarkeit der sozialistischen Revolution[322].
Von diesem 'Geschichtsoptimismus' hat Habermas sich nun restlos freigemacht und dies wiederum hat weitreichende Folgen für den Stellenwert gerade des empirisch–soziologischen Teils seines Werkes. Die Krisen und Kriege der Gegenwart sind nicht die 'Geburtswehen' des neuen Zeitalters und schon gar nicht die einmal erhoffte 'interne' Aufhebung des Geschichtsprozesses in einer qualitativ höheren Stufe; ein Blick auf seine »Krisentendenzen im Spätkapitalismus«[323] läßt erkennen, wie weit sich Habermas von dieser Annahme einer früheren Generation entfernt hat. Konkret heißt das: inmitten einer objektiven, beängstigend realen Krise gebe es kein Verlassen mehr auf jenes 'Subjekt' der Geschichte, das wie ein deus ex machina für eine qualitativ bessere Zukunft als Garant stehen sollte[324]. Vielmehr muß dies durchschaut werden als das, was es vielleicht seit langem schon war, nämlich als ein – noch bis in die materialistische Dialektik hinein wirkendes – Stück Metaphysik, dessen Bewußtmachung jetzt eine dringende Aufgabe darstellt. Freilich bedeutet diese Kritik am Begriff des Proletariats mitnichten, daß jenes Programm, das mit der Hegelschen Kritik am »natürlichen Bewußtsein«[325] anhebt und dann in der ersten Feuerbachthese seine politische Schärfe bekommt, hinfällig geworden ist: wie zuvor geht es der aufgeklärten Erkenntnistheorie um den Beweis, daß das, was dem gesunden Menschenverstand als 'an sich' erscheint, ebensosehr Synthesis ist wie Gegenstand, 'thesei' wie 'physei', Gedachtes wie raum–zeitlich erfahrbares Ding, Urteil wie Sache; daß es eine 'subjektiv–tätige' Seite aufweist. Dieses 'naive' Bewußtsein, dessen abstrakte 'Ansichten' der erkenntnistheoretischen Kritik dringender denn je bedürfen[326], ist – im Zeitalter der Weltkriege – weniger der Liberalismus oder die Politische Ökonomie, als jene geistige Einstellung, die beidem zwar zugrundeliegt, aber doch nicht damit gleichgesetzt werden kann: jener universal gewordene, sich als Weltanschauung schlechthin etablierende, naturwissenschaftlich fundierte Objektivismus. Instrumentelles, zweckrationales Denken ist aber für Anderes, ist wesentlich vermittelt, ist kein 'An sich'[327] – das könnte die Habermassche Intention direkter treffen als alle Vergleiche mit der Marxschen Warenanalyse. Dieses 'An sich' ist bei Habermas allerdings keine transzendentalphilosophische Konstruktion, sondern real: d.h. die Explikation dessen, was damit gemeint ist, ist nichts anderes als die inhaltliche Beschreibung der Realgeschichte und des Evolutionsprozesses selber – insofern ist der Vergleich mit der Marxschen Warenanalyse doch wiederum weniger abwegig als mit der phänomenologischen 'epoche' Husserls, der Heideggerschen 'Kehre' oder mit anderen antipositivistischen Richtungen in der Philosophie. Denn darüber kann kein Zweifel bestehen: Habermas teilt jenes Mißtrauen, das Horkheimer – Lukács und Korsch folgend – einmal dazu motivierte, das Programm einer 'kritischen' Gesellschaftstheorie gegenüber der Sphäre der 'reinen' Geltung und der 'reinen' Philosophie abzugrenzen. Eine 'externe' Wissenschaftskritik, die 'vom Standpunkt der Philosophie aus' operiert, ist von vornherein zu jener Erfolglosigkeit verurteilt, die seit je die abstrakte Negation kennzeichnete – auch hierin ist Habermas 'materialistisch'. Wer den Szientismus insgesamt 'in Frage stellen' will (was – anders als bei Marx – bei Habermas in erster Linie 'Idealismuskritik' heißt), muß dies aus den inneren Konsequenzen und Ergebnissen der empirischen Disziplinen selbst entwickeln; nur in der Auseinandersetzung mit inhaltlichen Problemen der Anthropologie, der Soziologie und der Psychologie haben höchst abstrakte Begriffe wie 'Organisationsprinzipien', 'Geltungsansprüche' oder 'Verständigungsformen' ihren Sinn. Dabei üben für Habermas die empirische Sozialpsychologie und Teile der Linguistik eine Art begründende Funktion aus: sie 'fundieren' die Geschichtstheorie auf eine analoge Weise, wie bei Marx der Arbeitsbegriff dies tat. Was es wiederum unerläßlich macht, nicht nur gewisse Forschungsresultate aus der kognitivistischen Psychologie (Piaget), aus der Motivationsforschung (Kohlberg: Stufen der moralischen Argumentation) und aus der Sprechakttheorie (Searle) präsent zu haben, sondern auch die Querverbindungen, die Habermas zwischen diesen Bereichen und einer allgemeinen Gesellschaftstheorie einerseits und der Wissenschaftstheorie andererseits herstellt. Es ist gerade diese dreifache Konstellation, die gegenüber Marx das qualitativ Neue ausmacht und die ich in den nächsten Abschnitten kurz behandeln möchte: a) das Verhältnis von empirischer Entwicklungspsychologie zur Wissenschaftstheorie, b) das Verhältnis von Entwicklungspsychologie zur Realgeschichte (Periodisierungsproblematik) und c) das Verhältnis des Wissenschaftssystems zur Politik. Bei einem derartigen Komplexitätsgrad begnüge ich mich notgedrungen mit einem stark schematisierenden Überblick, um wenigstens anzudeuten, was es heißen soll, daß ein 'rekonstruierter' Historischer Materialismus mit der Kommunikationstheorie 'zusammenhängt'[328].
II.4.3 Ichentwicklung, Gattungsevolution, Wissenschaftstheorie, Zeitdiagnostik
Schon Marx faßte die 'apriorischen' Elemente des Denkens (deren Geltung noch bei Kant das Bewußtsein nur kontemplativ 'inne' werden kann) nicht länger als eine vom empirischen Subjekt getrennte Sphäre der 'reinen' Geltung auf, sondern als unter empirischen Bedingungen stattfindende Integrationsleistungen eines unter dem Imperativ der Selbsterhaltung stehenden (Kollektiv–)Subjekts: schon bei Marx ist, was in der neuzeitlichen Philosophie das Problem der 'Erfahrungskonstitution' heißt, nicht mehr als die denkende Reflexion über die Regeln der reinen Vernunft gedacht, sondern als Ich–Leistungen im Dienste der Konkurrenz, der Machtausübung und des Überlebens. Gerade die Lehre, derzufolge das abstrakte, bürgerlich–platonische Denken eine reale, innerweltliche 'Basis' hat, markiert bei Marx den Punkt, wo die 'Konstitutionstheorie' sich von der Philosophie verabschiedet, um sich in einem anderen Medium wirksamer etablieren zu können. Diese 'materialistische' Wende in der Konstitutionstheorie (dieser 'Übergang von der Philosophie zur Wissenschaft') hat freilich bei Habermas, der hier das Erbe von Fromm und Marcuse antritt, eher einen sozialpsychologischen oder ichanalytischen Sinn als einen ökonomisch–geschichtstheoretischen: die Konstitutionstheorie wird umgepolt in das, was eine (nicht–szientifische) 'Wissenschaft von Mechanismen der Ichintegration in der Gattung Mensch' genannt werden könnte[329]. Einmal als erfahrungswissenschaftlich vorgehende Ich–Psychologie neu etabliert, führt er sie mit Mitteln weiter, die das Freudsche Triebmodell mit Ergebnissen aus der kognitivistischen Psychologie und der strukturalistischen Anthropologie konfrontieren und ergänzen:
»Zunächst zum Konzept der Ichentwicklung. Die Ontogenese läßt sich unter den drei Aspekten der Erkenntnis, Sprach– und Handlungsfähigkeit analysieren. Man kann diese drei Aspekte der kognitiven, sprachlichen und interaktiven Entwicklung unter eine vereinheitlichende Idee der Ichentwicklung bringen: das Ich bildet sich in einem System von Abgrenzungen. Die Subjektivität der inneren Natur grenzt sich gegenüber der Objektivität einer wahrnehmbaren äußeren Natur, gegenüber der Normativität der Gesellschaft und gegenüber der Intersubjektivität der Sprache ab. Indem es diese Abgrenzungen vollzieht, weiß sich freilich das Ich nicht nur als Subjektivität, sondern als eine Instanz, die gleichzeitig in Kognition, Sprache und Interaktion die Grenzen der Subjektivität 'immer schon' transzendiert hat: das Ich kann sich gerade in der Unterscheidung des bloß Subjektiven vom Nicht–Subjektiven mit sich selbst identifizieren. Von Hegel über Freud bis Piaget ist die Idee entfaltet worden, daß sich Subjekt und Objekt wechselseitig konstituieren, daß sich das Subjekt nur im Verhältnis zu und auf dem Wege über den Aufbau einer objektiven Welt seiner selbst vergewissern kann. Dies Nicht–Subjektive ist einerseits 'Objekt' im Sinne Piagets: die kognitiv vergegenständlichte und manipulativ verfügbare Realität; andererseits 'Objekt' im Sinne Freuds: der kommunikativ erschlossene und durch Identifikationen gesicherte Interaktionsbereich. Die Umwelt ist in diese beiden Regionen (äußere Natur und Gesellschaft) differenziert: sie wird ergänzt durch Spiegelungen der beiden Realitätsbereiche aneinander (etwa die Natur als gesellschaftsanalog gehütete 'geschwisterliche' Natur oder die Gesellschaft als strategisches Spiel oder als System usw.). Außerdem hebt sich Sprache als eine eigene Region von den Gegenstandsbereichen ab. Die kognitivistische und die psychoanalytische Entwicklungspsychologie haben nun Evidenzen für die Annahme gesammelt, daß sich die Ichentwicklung in Stufen vollzieht. Sehr tentativ möchte ich (a) die symbiotische, (b) die egozentrische, (c) die soziozentrisch/objektivistische und (d) die universalistische Entwicklungsstufe unterscheiden. (a) Während des ersten Lebensjahres lassen sich keine eindeutigen Indikatoren für eine subjektive Trennung zwischen Subjekt und Objekt finden. Anscheinend kann das Kind in dieser Phase den eigenen Körper nicht als Leib, als ein grenzerhaltendes System wahrnehmen. Die Symbiose zwischen Kind, Bezugsperson und physischer Umgebung ist so eng, daß im strikten Sinne von einer Abgrenzung der Subjektivität nicht sinnvoll gesprochen werden kann. (b) Im nächsten Lebensabschnitt, der sich mit Piagets sensomotorischer und präoperativer Entwicklungsphase deckt, gelangt das Kind zu einer Differenzierung zwischen Ich und Umwelt: es lernt, permanente Objekte in seiner Umgebung wahrzunehmen, ohne jedoch schon die Umwelt nach physischen und sozialen Bereichen eindeutig zu differenzieren. Auch ist die Abgrenzung gegenüber der Umwelt noch nicht objektiv. Das zeigt sich an den Erscheinungen des kognitiven und des moralischen Egozentrismus. Das Kind kann Situationen nicht unabhängig von seinem eigenen Standpunkt wahrnehmen, verstehen und beurteilen: es denkt und handelt aus leibgebundener Perspektive. (c) Mit Beginn der Stufe der konkreten Operationen hat das Kind den entscheidenden Schritt zum Aufbau eines Systems der Ich–Abgrenzungen getan: es differenziert nun zwischen wahrnehmbaren und manipulierbaren Dingen und Ereignissen einerseits, verstehbaren Handlungssubjekten und deren Äußerungen andererseits, und es verwechselt nicht länger sprachliche Zeichen mit dem Referenten und der Bedeutung des Symbols. Indem das Kind der Perspektivität seines Standpunktes innewird, lernt es, seine Subjektivität gegenüber der äußeren Natur und der Gesellschaft abzugrenzen. Etwa mit dem 7. Lebensjahr hören die Pseudolügen auf – ein Anzeichen für die Unterscheidung zwischen Phantasien und Wahrnehmungen, zwischen Impulsen und Verpflichtungen. Am Ende dieser Phase hat die kognitive Entwicklung zu einer Objektivierung der äußeren Natur, die sprachlich–kommunikative Entwicklung zur Beherrschung eines Systems von Sprechakten, und die interaktive Entwicklung zur komplementären Verbindung generalisierter Verhaltenserwartungen geführt. (d) Erst mit der Adoleszenz kann es dem Jugendlichen gelingen, sich fortschreitend vom Dogmatismus der vorangehenden Entwicklungsphase zu befreien. Mit der Fähigkeit, hypothetisch zu denken und Diskurse zu führen, wird das System der Ich–Abgrenzungen reflexiv. Bis dahin hatte das an konkrete Operationen gebundene epistemische Ich einer objektivierten Natur gegenübergestanden, war das in Gruppenperspektiven befangene praktische Ich in naturwüchsigen Normensystemen aufgegangen. Sobald aber der Jugendliche die in Behauptungen und Normen enthaltenen Geltungsansprüche nicht mehr naiv akzeptiert, kann er sowohl den Objektivismus einer gegebenen Natur transzendieren und das Gegebene im Lichte von Hypothesen aus zufälligen Randbedingungen erklären, wie auch den Soziozentrismus einer überlieferten Ordnung sprengen und die bestehenden Normen im Lichte von Prinzipien als bloße Konventionen verstehen (und gegebenenfalls kritisieren). In dem Maße wie der Dogmatismus des Gegebenen und des Bestehenden erschüttert wird, können die vorwissenschaftlich konstituierten Gegenstandsbereiche im Verhältnis zum System der Ich–Abgrenzungen relativiert werden, so daß Theorien auf die Erkenntnisleistungen forschender, und Normensysteme auf die Willensbildung zusammenlebender Subjekte zurückgeführt werden können.«[330]
Was in der klassischen Philosophie 'Medien der Erfahrungskonstitution' genannt wird[331], heißt nun bei Habermas: 'System der Ich–Abgrenzungen'[332]. In diesem Neologismus klingt schon an, daß die unter dieser Rubrik anvisierten Untersuchungen[333] zwei fundamentale Voraussetzungen der Erkenntnistheorie des Kantischen Typs nicht länger teilen:
a) Der 'Träger' der zu untersuchenden 'Formen des Bewußtseins' ist nicht länger das 'transzendentale' Subjekt, sondern das empirische Einzelindividuum, und zwar das Kind in seinem Lern– und Entwicklungsprozeß (dessen Studium also, sensu strictu, eine Sozialisations– und keine Erkenntnistheorie mehr ist);
b) die Einstellung des Forschers ist nicht mehr, in erster Linie, eine philosophische oder konstitutionstheoretische, denn Ziel der Untersuchung ist nicht länger die reflexive (nur in der 1. Person singular auszuführende) Vergewisserung und 'Bewußtmachung' von schon internalisierten Formen der Vernunft, sondern die explizite Bezugnahme auf anthropologische Universalien im Sozialisationsprozeß der Gattung Mensch.
Diese Universalien[334] sind:
1) die 'äußere Natur' als Inbegriff von »wahrnehmbaren und manipulierbaren Dingen und Ereignissen«,
2) die 'Gesellschaft' als Inbegriff der sprachlich vermittelten, normativ gehaltvollen Interaktion mit anderen Subjekten,
3) die 'innere Natur' als Inbegriff einer 'subjektiven Welt' von privat erfahrbaren Bedürfnissen und Wünschen.
Diese 'Universalien' werden nicht logisch–deduktiv gewonnen, sondern empirisch – sie zielen auf jene biologisch–anthropologische 'Basis', die vor jedem partikularen 'Bildungsprozeß' (des Individuums und der Kollektivität) so etwas wie die Bedingungen der Möglichkeit des menschlichen Sozialisationsprozesses überhaupt festlegt. Um den Sinn dieses 'turns' zur Empirie zu verstehen (sowohl in der Ich–Psychologie als auch in der Anthropologie, im Anschluß an Freud als auch an Darwin), ist es notwendig, sich zwei Momente vor Augen zu halten:
– Erstens hat dieser 'empirische turn' den (materialistischen) Sinn, gegenüber der traditionellen Erkenntnistheorie den Beweis zu führen, daß die 'kategorialen' Bestimmungen des Denkens – kantisch: die 'synthetischen Urteile apriori' – empirisch generiert werden, und zwar im Sozialisationsprozeß des Einzelnen. Die Subsumption des unmittelbar Gegebenen unter allgemeine Regeln wird nicht mehr als ein philosophisches oder 'transzendentallogisches' Problem aufgefaßt (als eine ahistorische Subsumption unter die 'Gesetze der reinen Vernunft', d.h. als ein Teil der Logik), sondern als eine empirisch erwerbbare Kompetenz des einzelnen Subjekts, die unter den Bedingungen eines kontingenten Sozialisationsprozesses erworben wie verfehlt werden kann. Das Subjekt wird nicht länger, wie es in der nachkantischen Erkenntnistheorie der Fall war, in einen empirischen, sich 'in' Raum und Zeit befindenden Teil einerseits und andererseits in einen 'transzendentalen', die Kategorien der Logik innewerdenden Teil aufgespalten, sondern gerade die 'geistige', 'synthetisch–aktive' Seite des Wissens wird als ein 'Können' aufgefaßt, das nur genetisch, als Moment im Sozialisationsprozeß verstanden werden kann. Der Subjektbegriff bei Habermas ist m.a.W. nicht mehr dualistisch: die 'synthetisch–aktive' Seite wird als 'Tätigkeit' aufgefaßt, als etwas innerweltliches, durchaus der Marxschen Überbaulehre vergleichbar. (Deshalb auch der zentrale Stellenwert der weit über Kant und Hegel hinaus jetzt der Sprache eingeräumt wird, denn das ist nun der einzig übriggebliebene Ort, wo die 'synthetisch–aktive' Seite des Bewußtseins – das alte 'Subjekt–Objekt' Verhältnis – noch greifbar bleibt.)
– Zweitens ist der Sinn dieses 'empirischen turns' weitaus mehr als die Etablierung einer neuen Disziplin im Anschluß an Freud, Piaget und G.H. Mead: das Studium der Ichentwicklung schließt sich zwar an die vorhandene Literatur in der Sozialisationstheorie und der Psychoanalyse an, zielt aber dennoch auf etwas qualitativ anderes, nämlich auf eine Reaktualisierung der Lukács'schen Verdinglichungsanalyse – und damit auf ein neues Verständnis der objektiven gesellschaftlichen Dialektik insgesamt.
Das dürfte abwegig klingen: ein den Regeln der empirischen Methode folgendes Studium des menschlichen Sozialisationsprozesses anzustreben, das gleichzeitig in diesem Moment eine dialektische Kritik am formal–abstrakten Denken erneuert. Wie wäre das vorzustellen?[335]
Schlüsselcharakter hat bei Habermas der Begriff einer 'objektivierenden Grundeinstellung zur Welt'. Er deutet auf einen Komplex hin, der einerseits Gegenstand der empirischen Sozialisationsforschung ist (nämlich die Entwicklung von instrumentellen, sprachlichen und interaktiven Kompetenzen beim Kinde) und der aber andererseits auch in den Einzelwissenschaften zu Ergebnissen geführt hat, die mit idealistischen und positivistischen Annahmen in der Wissenschaftstheorie (etwa mit den Präsuppositionen der objektivistischen Verhaltenspsychologie) nicht vereinbar sind. Das ist eine komplexe und längst nicht abgeschlossene Debatte, die auch Ausläufer in die Linguistik, die Psychoanalyse, die Sozialisationstheorie und die Erkenntnistheorie erzeugt hat, deren Kern aber folgendes Paradoxon ausmacht: Je mehr die empirische Forschung die kindliche Sprach–, Urteils– und kognitive Entwicklung in allen Einzelheiten nachkonstruiert, um so unhaltbarer werden jene Dogmen, die dem methodologischen Formalismus und dem Empirismus selbst zugrunde liegen, nämlich der platonische Begriffsrealismus und der naive Sensualismus.
Weil die kognitivistische und psychoanalytische Entwicklungspsychologie den Erwerb von Erkenntnis, Sprach– und Handlungsfähigkeit gerade in ihrer wechselseitigen Abhängigkeit voneinander studiert, isoliert sie nicht länger – idealistisch – das Moment des Wissens von dem Moment des Tuns oder Handelns. Gerade dies macht das radikal Neue an der kognitivistischen Psychologie von Piaget und seine Schule aus: sie hat gegenüber der älteren Lerntheorie den entscheidenden Vorteil, daß z.B. der Erwerb von instrumentellen und interaktiven Fähigkeiten (ein Objektives) in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Erwerb von entsprechenden synthetisch–begrifflichen Abstraktionsleistungen (ein Subjektives) studiert wird. Sie hat zeigen können, wie unsinnig es ist, die Entwicklung von Handlungskompetenzen in der Ontogenese objektiv erklären zu wollen bei gleichzeitigem Verzicht auf alle Versuche, die 'Welt' des Kindes hermeneutisch–subjektiv zu entschlüsseln. Aber: die methodologische Notwendigkeit, gleichzeitig empirisch–deskriptiv und hermeneutisch–kommunikativ vorgehen zu müssen, bringt Folgeprobleme mit sich. Ist es dem Psychologen einmal aufgegangen, wie unerläßlich ein kommunikativ–hermeneutischer Zugang zu seinem Gegenstandsbereich nun eigentlich ist, so verstrickt er sich nolens volens in Erwägungen, die mit seinen eigenen methodologischen Voraussetzungen unvereinbar sind – nicht unähnlich den Problemen des Weberianers in der Soziologie, der für seine Entscheidung, entweder nomologisch–deduktiv erklärend oder hermeneutisch verstehend vorzugehen, keine rationale Begründung angeben kann.
Die von der kognitivistischen Psychologie beschriebenen Phasen in der Entwicklung von manipulativ–instrumentellen Fähigkeiten (von sensumotorischen Interaktionen mit den Bezugspersonen beim Kleinkind bis zu formalen Operationen in der Spätadoleszenz) rekonstruieren eindeutig die 'subjektive' Seite einer wachsenden Verfügungsgewalt über Dinge und Prozesse in der 'Außenwelt'. Das Faszinierende an Piaget – was den Vergleich mit Hegel geradezu herausfordert[336] – ist, daß er eine Interdependenz aufweist zwischen diesen wachsenden instrumentell–manipulativen Fähigkeiten einerseits und den subjektiven Abstraktionsleistungen des Heranwachsenden andererseits. Das Ergebnis dieser Untersuchungen muß jeden naturwissenschaftlich denkenden Positivisten aber zutiefst beunruhigen, denn nach Piaget stehen die Abstraktionen auf der höchsten Stufe des epistemischen Ichs – die Fähigkeit, die ganze Erscheinungswelt unter die einzigen Perspektiven von Raum, Zeit und Kausalität zu subsumieren – in einem Zusammenhang, der die ontologische Deutung des Objektivismus unweigerlich unterminiert. Der Begriffsrealismus und der Schein von an sich seienden (vom Subjekt unabhängigen) Sachverhalten sind nach diesen Forschungsergebnissen gerade das, was der methodologische Formalismus und der logische Absolutismus am allerwenigsten wahrhaben will: subjektive Projektionen, deren Funktion es ist, die Welt als Welt der möglichen Manipulierbarkeit für das Subjekt zu konstituieren, die Welt instrumentell 'verfügbar' zu machen, sie ihm 'gleich' zu machen. Die empiristische Psychologie, deren Ehrgeiz es ist, reine Objektivität herauszupräparieren, entdeckt zu ihrer Verwunderung in ihrem eigenen Forschungsgegenstand, daß gerade dieser Anspruch – reine Objektivität – selbst einen Moment der Partikularität enthält. Nach den Ergebnissen der Entwicklungspsychologie ist die formale Logik und das nomologisch–deduktive Verfahren nicht mehr und nicht weniger als die subjektive Seite des instrumentellen Handelns; spirituell gewordene Naturbeherrschung, ein Moment der gesellschaftlichen Arbeit und keineswegs ein Schlüssel zur Entzifferung der Welt 'an sich'. Jede ontologische Deutung des Empirismus wird dadurch radikal dementiert, denn nun ist er selbst etwas Abgeleitetes, etwas 'Innerweltliches' geworden: dies ist der Punkt, an dem die Entwicklungspsychologie reflexiv' wird, an dem sie umschlägt in Erkenntnis– und Gesellschaftstheorie[337]. Die empirische Entwicklungspsychologie untergräbt ihren eigenen Objektivismus, und zwar um so gründlicher, je gewissenhafter sie sich ihren materiellen Forschungen widmet[338].
Habermas' Begriff der 'objektivierenden Grundeinstellung zur Welt' hat aber nicht nur den Sinn, Forschungsergebnisse aus der Psychologie und der Psychoanalyse gegen den abstrakten Empirismus selbst auszuspielen – wie zentral dieses Moment einer immanenten Wissenschaftskritik in seinem Werk auch sein mag. (Die Positivismuskritik bewegt sich sozusagen noch in der Sphäre des subjektiven Geistes; sie reicht noch nicht an die Sphäre des objektiven Geistes – oder an seine materialistischen Äquivalente – heran). Deshalb hat Habermas' Begriff der 'objektivierenden Grundeinstellung zur Welt' noch einen anderen Sinn, sie ist nämlich einerseits eine Anknüpfung an die Hegelsche Identitätsphilosophie und visiert andererseits eine Fortführung der sozialpsychologischen Studien aus den dreißiger Jahren an[339]. Auch dies unternimmt er in Form einer Rekonstruktion von Sprach– und Handlungskompetenzen, aber diesmal nicht als Rekonstruktion des epistemischen, instrumentell handelnden Subjektes, sondern als Rekonstruktion des praktischen Ichs.
Auch hier kommen ihm die Psychoanalyse und die Entwicklungspsychologie sehr gelegen, denn sie liefern eine Art nachträgliche, empirische Bestätigung für die Richtigkeit jener Kritik, die seinerzeit schon Hegel an der voluntaristischen und rationalistischen Ethik übte: an jenem (mit der Naturrechtslehre verbundenen) Voluntarismus, demzufolge praktische Urteile ausschließlich auf die privaten, rationalen Entscheidungen von autonomen Einzelsubjekten zurückzuführen seien[340]. (Schon Hegel hielt dem abstrakten Subjektivismus entgegen, er sei »unfreies Räsonieren, nicht Begreifen«[341].) Ich kann die komplexen Verbindungen, die Habermas zwischen Ich–Entwicklung, Identitätsbildung und Moralbewußtsein[342] ausgearbeitet hat, hier nicht in allen Einzelheiten verfolgen, sondern beschränke mich auf eine summarische Erläuterung der geschichtstheoretischen Seite der Habermas'schen Begrifflichkeit: d.h. auf die Beziehung zwischen Weltbildrationalisierung und Realgeschichte.
Weltbilder haben allemal die Funktion, drei widersprüchliche 'Aufgaben' erfüllen zu müssen:
1) Sie müssen vergesellschafteten, in einer unnachgiebigen Umwelt lebenden Individuen ein Medium bereitstellen, das es ihnen ermöglicht, technisch verwertbares Wissen allgemein verfügbar zu machen[343] und zu tradieren (Produktionswissen).
2) Sie müssen sozial–integrative Verbindungen zwischen den Mitgliedern eines Stammes oder eines Staates legitimieren und in gewisser Weise auch herstellen: auch und gerade bei faktischer Gewalt– und Machtausübung müssen sie den Schein einer – wenn nicht herrschaftsfreien, dann doch legitimen – kollektiven Identität aufrechterhalten können, die es dem einzelnen Individuum ermöglicht, sich darin zu 'lokalisieren', sich darin 'wiederzuerkennen'.
3) Sie müssen die im Persönlichkeitssystem verankerten Bedürfnisse (nach Autonomie, Gerechtigkeit, Menschenwürde, Harmonie) auch dann wahren können, wenn die reale Welt sie nicht bewahren kann; in der Freudschen Terminologie: sie müssen projektive Ersatzbefriedigungen ermöglichen.
Das Weltbild auf der Stufe neolitischer Gesellschaften (oder des 'Mythos') erfüllt diese Funktionen zwar, aber auf eine noch undifferenzierte Weise. Riten und Erzählungen einerseits, die eher der sozialen (und Ich–) Integration dienen, und technisch verwertbares Wissen andererseits sind noch in einem einzigen symbolischen Universum 'verschmolzen': das normal sozialisierte Mitglied einer Stammesgesellschaft ist außerstande, prinzipiell zwischen einer objektiven Welt von Dingen und Ereignissen, einer sozialen Welt von Normen und Geboten und einer subjektiven Welt von Bedürfnissen und Emotionen zu unterscheiden. Das Weltbild auf dieser Stufe ist – nicht unähnlich dem eines Kindes, das sich auf der Stufe der konkreten Operationen (Piaget) befindet – ethnozentrisch und partikularistisch zugleich: weil die Riten und die normativen Gebote eines bestimmten Stammes mit natürlichen Ereignissen (etwa astronomischen oder metereologischen) subjektiv noch aneinander 'assimiliert' sind, können sie nicht als die Gebräuche eines geographisch lokalisierten Stammes zu Bewußtsein kommen[344]. Das 'praktische', an eine bestimmte Stammesgesellschaft gebundene Ich kann solange nicht über eine konkrete, ethnozentrische Rollenidentität hinaus sich entfalten, wie ihm der Begriff einer abstrakten Entität oder 'Welt' fehlt, von deren Perspektive aus die Partikularität seines eigenen Stammes als Partikularität sich überhaupt erst herausstellen kann.
Der Übergang zu staatlich organisierten Gesellschaften bringt auf der Weltbildebene eine strukturelle Änderung mit sich, die Habermas in Analogie zu Piaget (aber auch zu Hegel) als Übergang von einer konkreten, an eine partikulare Stammesgeschichte gebundenen Ich–Identität zu einer abstrakten, in einer universalistischen Religion aufgehenden Ich–Identität interpretiert[345]. Die ersten Hochkulturen und großen Imperien, die schon stark ausgeprägte Klassengesellschaften waren (d.h. die auf politischer Macht als Integrationsmechanismus beruhten), schufen die objektiven Bedingungen für die Herausbildung universalistischer, abstrakter, dualistischer Weltbilder. Mitgliedschaft in den großen Weltreligionen beruht nicht auf Stammeszugehörigkeit und Geburt, sondern nur auf der Bereitschaft, in eine auf Gehorsam und Glaubensbekenntnis beruhende Glaubensgemeinschaft einzutreten – in diesem Sinne sind sie, gegenüber mythischen Weltbildern, universalistisch. Dieses Nichtgebundensein an einen bestimmten Stamm bedeutet, daß die großen Weltreligionen in den großen Imperien sozial–integrativ wirken konnten: die Identität der Person ist nicht mehr geographisch lokalisiert; Kontakt mit fremden Kulturen bedeutet nicht mehr automatisch Identitätsverlust. Der Übergang von narrativer Erzählung zu einer schriftlich überlieferten, interpretationsbedürftigen, die Lebenspraxis bestimmenden religiösen Lehre (d.h. der Übergang von mythischen Weltbildern zu den großen Weltreligionen) bringt entscheidende Änderungen auf der Ebene des Persönlichkeitssystems mit sich, die Habermas in Analogie zu dem interpretiert, was in der Ontogenese während der Spätadoleszenz geschieht: Die bis dahin natürwüchsig eingelebten Ge– und Verbote einer bestimmten Familie kommen gerade in ihrer Partikularität gegenüber anderen Familien zu Bewußtsein. Die dadurch ausgelösten Konflikte sind (orientiert man sich hier an der neueren Literatur über Adoleszenzkrisen[346]) konventionalistisch nicht mehr lösbar: der Heranwachsende muß sich entweder auf einen Dauerkonflikt zwischen (und mit) konkreten, unvereinbaren Anforderungen einstellen oder den schwierigen (weil die Auflösung der primären Identifikationen mit den Eltern voraussetzenden) Übergang zu einer geistigen Einstellung bewerkstelligen, die eine diskursive Begründung von Normen ermöglicht. Das praktische Ich ist auf der Stufe der Weltreligionen m.a.W. nicht länger in die konkreten Normen und Gebräuche einer bestimmten Ordnung 'eingeschlossen'; weil das diesseitige Handeln 'in' der Welt nicht mehr an detaillierte rituelle Vorschriften gebunden ist, sondern nur noch wenigen allgemeinen Prinzipien unterliegt (etwa den zehn Geboten), ist das qualitativ Neue jetzt der Bedarf an Kasuistik, Hermeneutik und Eschatologie. Die diskursive Begründung tritt jetzt an die Stelle einer überlieferten rituellen Praxis oder wie Habermas es ausdrückt: »das Gewicht der Tradition« wird zunehmend durch »das Gewicht der Argumente«[347] ersetzt. Damit entsteht eine folgenreiche Spannung gegenüber allen 'weltlichen' Mächten, die in ihrer Partikularität nun als Partikularität wahrgenommen werden können.
»Solche Diskrepanzen [zwischen dem Universalismus des Diskurses und der Partikularität der Herrschaft – FvG] hat es in den alten Imperien immer wieder gegeben, aber erst mit dem Übergang zur Moderne sind sie unvermeidlich geworden. Das kapitalistische Organisationsprinzip bedeutet die Ausdifferenzierung eines entpolitisierten und marktregulierten Wirtschaftssystems. Dieser Bereich dezentralisierter Einzelentscheidungen wird im Rahmen des bürgerlichen Privatrechts nach universalistischen Grundsätzen organisiert: dabei wird unterstellt, daß die privatautonomen Rechtssubjekte in einem sittlich neutralisierten Verkehrsbereich ihre Interessen nach allgemeinen Maximen zweckrational verfolgen. Von der Umstellung des Produktionsbereichs auf universalistische Handlungsorientierungen geht ein starker struktureller Zwang für die Entfaltung von Persönlichkeitsstrukturen aus, welche die konventionelle Rollenidentität durch Ich–Identität ersetzen. Moderne Gesellschaften müssen also eine kollektive Identität ausbilden, die mit universalistischen Ich–Strukturen in größerem Umfang vereinbar ist. Tatsächlich können sich die emanzipierten Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft, deren konventionelle Identität zerbrochen ist, mit ihren Mitbürgern eins wissen in ihrer Eigenschaft a) als freie und gleiche Privatrechtssubjekte (der Bürger als privater Warenbesitzer), b) als moralisch freie Subjekte (der Bürger als Privatmensch) und c) als politisch freie Subjekte (der Bürger als demokratischer Staatsbürger). So bildet sich die kollektive Identität der bürgerlichen Gesellschaft unter den hochabstrakten Gesichtspunkten von Legalität, Moralität und Souveränität: in dieser Weise drückt sie sich jedenfalls in den modernen Naturrechtskonstruktionen und in den formalistischen Ethiken aus. Nun eignen sich aber diese abstrakten Bestimmungen allenfalls für die Identität von Weltbürgern, nicht für die von Bürgern eines partikularen Staates, der sich gegen andere Staaten behaupten muß. Der moderne Staat ist während des 16. Jahrhunderts als Glied eines Staatensystems entstanden; die Souveränität des einen Staates findet an der Souveränität aller anderen seine Grenze; ja, sie konstituiert sich erst in diesem auf gegenseitiger Anerkennung beruhenden System. Selbst wenn dieses Staatensystem die nicht–europäische Welt, mit der es ökonomisch von Anbeginn verflochten war, als Peripherie hätte wegdefinieren können, so hätte es sich doch nicht im Stile eines Großreiches als universale Einheit darstellen können: das erlaubten die internationalen, letzlich auf Androhung militärischer Gewalt gestützten Beziehungen zwischen den souveränen Staaten nicht. Zudem ist der moderne Staat auf die Loyalität und die Opferbereitschaft einer ökonomisch und gesellschaftlich mobilgemachten Bevölkerung in noch stärkerem Maße angewiesen als der Staat in traditionalen Gesellschaften. Und für die Durchsetzung der allgemeinen Wehrpflicht reicht ersichtlich die Identität von Weltbürgern nicht aus. Das zeigt sich symptomatisch an der im modernen Staat angelegten Doppelidentität des Bürgers: er ist homme und citoyen in einem. Diese Konkurrenz von zwei Gruppenidentitäten ist vorübergehend durch nationale Zugehörigkeit stillgestellt worden: die Nation ist die neuzeitliche Identitätsformation, die den Widerspruch zwischen dem innerstaatlichen Universalismus des bürgerlichen Rechts und der Moral auf der einen, und dem einzelstaatlichen Partikularismus auf der anderen Seite entschärft und subjektiv erträglich gemacht hat. Viele Anzeichen sprechen dafür, daß diese historisch folgenreiche Lösung heute nicht mehr stabil ist.«[348]
Die Spannung zwischen dem in der bürgerlichen Naturrechtslehre enthaltenen Universalismus und der immer eklatanter werdenden faktischen Machtlosigkeit des Individuums gegenüber Staat, Kapital und Militär (»einzelstaatlicher Partikularismus«) wird nun auf der subjektiven Seite (d.h. im Persönlichkeitssystem) dadurch erträglich gemacht, daß das Ich sich aufspaltet in einen theoretischen und einen praktischen Teil, von dem der erste sich im Verlauf der bürgerlichen Epoche immer stärker ausprägt und der zweite immer rigoroser unterdrückt wird. So erklärt sich, nach Habermas, die realgeschichtliche Entwicklung jenes Sozialcharakters, der am Ende der bürgerlichen Ära nur noch eine verabsolutierte »objektivierende Grundeinstellung zur Welt« kennt und alles andere unterdrückt hat.
Vergegenwärtigen wir uns noch einmal diese zwei geschilderten Argumentationsstränge bei Habermas (immanente Kritik an der Wissenschaftstheorie und realgeschichtliche Rekonstruktion des quantifizierenden Denkens), um darzulegen, was hier nun 'Dialektik' heißt.
a) Wie bei Hegel ist der Ausgangspunkt eine Bewußtseinsform (das abstrakt–empirische Denken), von der im Verlauf der Analyse gezeigt werden soll, daß sie de facto nur der subjektive Widerhall eines objektiven, innerweltlichen, realgeschichtlichen Prozesses ist. Ziel der Analyse – sogar noch dann, wenn sie immanent–empirisch anhebt – ist deshalb nichts Seiendes oder Innerweltliches, denn sie erreicht ihr Ziel in dem Moment, wo ein Gedachtes (die 'objektivierende Grundeinstellung zur Welt') sich als Produkt eines Seienden 'inne' geworden ist, d.h. es ist in dem Moment erreicht, in dem ein Gedachtes sich seiner Heteronomie überhaupt erst gewahr wird. Dieses 'Innewerden' ist eine subjektive Reflexionsleistung des Wissenschaftlers – ein 'Pseudoapriori' wird durchschaut als das, was es ist. Das erklärt, warum die Frage nach dem Mechanismus der sozialen Evolution – die 'Periodisierungsproblematik' – gar nicht beantwortet werden kann, ja daß dessen Beantwortung nicht einmal angestrebt wird. Nur vordergründig geht es um die Frage nach dem Mechanismus der sozialen Evolution – realiter ist das Ziel der Argumentation in dem Moment erreicht, in dem der Fragende die falsche Abstraktheit seiner eigenen Frage eingesehen hat: in der Frage selbst steckt nämlich schon jene supponierte instrumentelle Verfügbarkeit, die der Soziologe sich bloß anmaßt. Die Geschichte 'insgesamt' ist kein Prozeß, in den wir instrumentell eingreifen können, und ist dies einmal eingesehen worden, dann regt sich erst recht Zweifel an der Angemessenheit des kausal–analytischen Denkens in der Geschichtsschreibung überhaupt. D.h. in der Debatte über mögliche Mechanismen in der sozialen Evolution geht es nicht nur um die Frage nach der Etablierung von neuen Institutionen, sondern ebensosehr um die 'Aufhebung' des Bewußtseins des Fragenden.
b) Wie bei Marx ist es ein wesentliches Moment in der ganzen Argumentationsstrategie, jene innerweltlichen Institutionen auszumachen, die die Krisenhaftigkeit der Welt verursachen. Die oben zitierte Stelle aus der Einleitung zu Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus ist eine der exponiertesten: wirklich verhängnisvoll – verfolgt man die dort sehr vorsichtig geäußerten Formulierungen – ist weniger die private Verfügung über Produktionsmittel als die objektive Notwendigkeit, womit diese auf die Außenpolitik des Nationalstaates einwirken muß und damit das Menetekel zukünftiger Weltkriege heraufbeschwört.